Über die Sinne steht unser Körper in ständigem Austausch mit der Außenwelt: antizipiert, analysiert, adaptiert – meist ohne unser Wissen, scheinbar automatisch. Ganz ähnlich können wir uns die intelligente Sensorik vorstellen, die künftig zwischen Mensch (oder Maschine) und der direkten Umgebung vermittelt. In der Warenwirtschaft zählen, erkennen, messen und prüfen bereits Visions- und Assistenzsysteme, beim autonomen Fahren sichern sie die Abstände, in der Sportmedizin unterstützen sie menschliche Bewegungen, bei komplexen Arbeitsabläufen weisen sie Menschen ihre Tätigkeit zu.
Was, wenn alles spricht, erkennt, spiegelt, assistiert?
Stellen wir uns die Unterstützung in den diversen Bereichen nun vernetzt und abgestimmt auf den Kontext vor, wird deutlich, dass die Arbeitswelt auf diese digitale Hilfestellung nicht mehr verzichten kann.
Stellen wir uns die Unterstützung in privaten Bereichen vernetzt und abgestimmt auf den Kontext vor, erkennen wir, dass Alexa, Facebook, jede Apple- oder Smartwatch bereits begonnen haben, uns solche Dienste zu erweisen. Was wir bisher fühlten, sehen wir jetzt faktisch: Blutdruck, Stress, Müdigkeit. Auf Basis unserer persönlichen Agenda werden smarte Zeitmesser unser Leben organisieren. Zahlreiche Berührungspunkte erfassen dann unser Tun individuell, analysieren und kommentieren unsere Handlungen, werden Augmented-Reality-Einblendungen auf unsere Brille oder Kontaktlinse schicken, die uns Wege und Angebote vorschlagen, Anweisungen geben oder uns vor Gefahren warnen.
So werden auch wir die Vorteile der smarten Assistenzsysteme für unser Vorankommen – im Arbeits- wie im Alltagskontext – nutzen, die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit auf persönlicher Ebene managen, berufliche Weiterbildung stärker mit privaten Interessen verknüpfen und generell vieles von dem, was bisher das Unternehmen für unsere Arbeit und Entwicklung übernommen hat, in die eigenen, assistierten Hände nehmen.
Wer übernimmt die Führung?
Smarte Apps und KI-unterstützte Assistenzsysteme werden uns nicht nur durch den Alltag lotsen, sondern im Arbeitskontext einen wesentlichen Teil der individuellen Führung übernehmen, die wir aktuell noch von unseren Vorgesetzten erwarten. Zwischen der Anspruchshaltung der Mitarbeiter nach persönlichem, differenziertem und häufigem Feedback auf der einen Seite und dem zeitlichen wie rechtlichen Rahmen auf Unternehmensseite weitet sich allerdings eine Lücke, die es angestellten Führungskräften unmöglich macht, beiden Anforderungen gerecht zu werden. Auch aus Arbeitsrechts- und Datenschutzgründen darf die individuelle Leistungsbemessung nicht von Arbeitgeberseite vorgenommen werden. Wenn wir aber individuell effektiv sein wollen und das Selbstmonitoring auch auf den Arbeitsbereich ausdehnen wollen, wird die Verantwortung vom Unternehmen direkt zu den Angestellten wandern – die ihre Informationen dem Unternehmen gegenüber wohl nur teilen, wenn sich daraus ein Vorteil für sie ergeben sollte.
Es ist daher absehbar, dass – nach Reibereien bezüglich Sicherheit und der Revision von Verantwortungsbereichen – uns die Apps von (wahrscheinlich) Google, Apple, Amazon oder Facebook auch bei der Arbeitsausübung im Büro unterstützen.
Mit der zunehmenden Flexibilität des Arbeitsorts und der individuellen Anforderung, damit umgehen zu können, erscheint es geradezu notwendig, dass wir egozentrierte Assistenzsysteme zurate ziehen, um uns effizient in diesen – plus den virtuellen – Welten zu bewegen. Das faktenbasierte Spiegeln unserer Handlungen hilft bei der realistischen Selbsteinschätzung, kann Verhandlungspositionen untermauern und motiviert zu mehr Eigenverantwortung und Selbstführung.
Das führt uns zu den neuen Fähigkeiten, die wir Menschen bei der Arbeit künftig anwenden sollen: Selbstführung, Selbstorganisation, Selbstlernkompetenz, Selbstmotivation, Selbstvermarktung, Selbstverantwortung … Gepusht von der digitalen Transformation erreicht der Individualisierungstrend endlich auch die Arbeitswelt. Neben den Mensch-Maschine und Team-Kompetenzen sollen die ichbezogenen Fähigkeiten helfen, sich persönlich stärker einzubringen und den individuell besten Weg zu finden.
Interessant ist, dass sich die digitalen Services darauf schon eingestellt haben: Jede „User Experience“ nimmt den Nutzer, die Nutzerin und deren Kontext in den Fokus: So wie heute jede digitale Karte die Welt um den Standpunkt des Individuums herum aufbaut, so ähnlich müssen wir uns die künftige Erwartung an die Arbeitswelt vorstellen: die Möglichkeiten zu Füßen gelegt und das Geländer zur Zielerreichung hier im Angebot!
Wie anders funktioniert die menschliche Wahrnehmung?
Wenn sich Sensoren nun anschicken, sensitiv auf uns zu reagieren, wie reagieren eigentlich unsere natürlichen Sinne auf die Umgebung?
Lassen wir die Digitalisierung einmal kurz beiseite und schauen auf die humane Vernetzung: Über unsere Sinne treten wir in Kontakt mit der Welt – und die Welt mit uns. Am Anfang ist es ein Gefühl, ein Geräusch, ein Geruch oder ein Muster – und Sekundenbruchteile später die Bewertung der Gesamtsituation. Für diesen Gesamteindruck werden alle bewusst und unbewusst empfundenen Sinnesreize aus der Umwelt und dem Körperinneren zu Informationen vernetzt.
Zum einen erfolgt der Abgleich untereinander, um eine möglichst komplette Vorstellung der Situation zu erhalten. Hierbei können Unstimmigkeiten wie zum Beispiel ein Bild-Ton-Versatz auf Sinnestäuschungen hinweisen: Schon 80 Millisekunden Versatz genügen uns, um zu erkennen, dass eine Szenerie nicht echt, sondern künstlich erzeugt ist.
Ein weiterer Abgleich geschieht über Assoziationen oder erinnerte Erfahrungen und verknüpft eine neue Wahrnehmung mit gespeichertem Erleben. Im Vergleich zum vernetzten Lernen der künstlichen Intelligenz ist der menschliche Erfahrungsschatz zwar begrenzt, vermag aber mit vergleichsweise minimalem Energieaufwand dort Kausalitäten zu erkennen, wo sie für den aktuellen Kontext einen sinnvollen Mehrwert bieten.
Der dritte Abgleich, den unser Gehirn an der Außenwahrnehmung vornimmt, reagiert auf unsere emotionale und körperliche Befindlichkeit, der die äußere Welt möglichst entsprechen sollte. So beeinflussen unsere Gesundheit, Stimmung oder eine Laune das eingehende Wahrnehmungsspektrum.
Der natürliche Automatismus dieser egozentrischen Filter soll unserem eigenen Schutz bzw. Vorteil dienen. Das Gehirn verstärkt diejenigen Umwelteindrücke, die wir wahrscheinlich zur Situationsbewältigung brauchen. Für Lern- und Arbeitsräume wäre dieses sinnliche, emotionale und assoziative Entgegenkommen wichtig, schließlich formuliert kein anderer Raum die Absicht deutlicher, unserem natürlichen Drang nach Entwicklung, Erfahrung und Lernen entsprechen zu wollen.
Was läge also näher, als diese empathische Kreativleistung nun auch auf die Raumgestaltung zu übertragen und hier die sinnlichen, emotionalen, assoziativen und angenehmen Parameter erlebbar zu machen, nach denen wir uns innerlich sehnen? Dem natürlichen Wunsch, sich willkommen und gut aufgehoben zu fühlen – egal, in welcher Verfassung man ist –, kommt der Wohlfühltrend entgegen, der Sinneseindrücke verstärkt anspricht und damit Wertschätzung ausdrückt. Indem der Wohlfühltrend optisch auf Muster zurückgreift, die nicht zum neutral-standardisierten Büro-Image passen (bestenfalls, ohne sich dabei einer anderen Klischeekiste wie etwa des Wohnzimmers zu bedienen), regt er zusätzlich unsere Assoziationen an und ermuntert dazu, sich ein neues, eigenes Bild vom Büro zu machen.
Wie erweitert sich unser Wirkungsraum?
Und doch ist mit der Wohlfühleinrichtung noch nicht genug gewonnen, wenn smarte Datennetze Raum und Realitäten überlagern und unserem Lernen neue Dimensionen zufügen. Um sich diese neuen Zukunftsbilder vorstellen zu können, müssen wir den physischen Raum vernetzt mit dem virtuellen Möglichkeitsspektrum denken. Wie beeinflusst die räumliche Expansion in vermischte Realitäten unsere Wahrnehmung und Wirksamkeit?
Wenn unsere Erfahrungen um Dimensionen reicher werden: Erweitert sich dann auch unser Lernspektrum?
Erfahrungen in vermischten Realitäten, Erlebnisse im Raumkontinuum zwischen körperlicher Archaik und unglaublicher Sensation zwingen uns, die Vorstellung und Bedeutung von Raum insgesamt neu auszuloten. „Den einen Raum“ gibt es nicht. Gab es nie – weil jedes Individuum ihn anders empfunden hat. Und „den einen Raum“ wird es – angesichts überlagerter Informationen – in Zukunft erst recht nicht geben.
Unser Raumverständnis beginnt mit der Interaktion, aus der sich der Raum entspinnt. Aus dem Wahrnehmungsraum wird ein Vorstellungsraum, aus jenem entspringt unser Handlungsraum, und was wir daraus machen, ist unser Wirkungsraum. Wahrnehmungspsychologisch ist der architektonische Raum die Kulisse, vor der wir agieren. Diese kann uns anregen, unterstützen oder aber auch unberührt lassen. Letzteres wäre eine vertane Chance – für die „Experience Society“ ebenso wie für die Arbeitswelt.
Was vermögen Bilder zu leisten?
Das Medium, mit dem sich Vorstellungsräume am effektivsten erweitern lassen, nutzen wir bereits: Bilder. Die meisten Menschen verfügen über eine stark visuelle Ausprägung und orientieren sich vorrangig über Mimik, Muster, Motive und bildhafte Eindrücke. Bilder setzen sich in Köpfen fest und prägen unseren Vorstellungsraum – wie wir es leider auch mit den Bildern der alten Arbeitswelt erleben. Es braucht also neue Bilder, die begeistern – und genau darin erproben wir uns auf Instagram & Co.
Vorbilder sind über Influencer auf Augenhöhe gerutscht. Alles inspiriert und imitiert. Dabei profitiert das Nachmachen auch von der körperlichen Übersetzung als sensueller Erfahrungsverstärker. Psychologisch eignen sich Selfies zur Identifikation, weil sich das Individuum, quasi von außen betrachtet, mitten im Geschehen erkennt und die eigene Rolle sogar zum Protagonisten überhöht. Wir haben also intuitiv verstanden, wie wir uns Umgebungen aneignen und mit Bildnissen selbst überzeugen können.
Welche Strategien verändern unser Lernen?
Bisher glaubten wir, was wir sahen; inzwischen wissen wir es besser, optimieren unser Umfeld wie uns selbst und setzen Täuschung als Inszenierung zum eigenen Vorteil ein: Wir gestalten unseren Vorstellungsraum. Interessant ist, dass wir in vermischten Realitäten quasi doppelt implizit lernen: zum einen, indem wir ungeahnte Möglichkeiten ausprobieren und die Effekte abspeichern; zum anderen, indem wir uns selbst bei diesem Lernvorgang beobachten und Entwicklungen nachverfolgen können. Das eine ist der Kick der Grenzüberschreitung zum bisher unmöglich Geglaubten. Das andere festigt unser Verständnis für das Wie und das Vertrauen in die eigene Übersetzungsfähigkeit. Zur Ausbildung von Selbstführung und Selbstlernkompetenz kein schlechter Weg!
Über den Autor
Birgit Gebhardt ist Trendforscherin mit Schwerpunkt „Zukunft der Arbeitswelt“. Die ehemalige Geschäftsführerin des Hamburger Trendbüros führt Entwicklungen zu plausiblen Vorstellungen von Zukunft zusammen. Seit 2012 erforscht sie neue Modelle des vernetzten Wirtschaftens und Arbeitens und berät branchenübergreifend Kunden auf dem Weg in die New-Work-Order, deren Chancenfelder sie in den gleichnamigen Studien beschreibt. Als Impulsgeberin berät sie Unternehmen wie Beiersdorf, Lufthansa, Swisscom, UBS oder XING auf dem Weg in die vernetzte Arbeitskultur und unterstützt bei der Konzeption neuer Arbeitswelten. Das Metier der Trendforschung erlernte die diplomierte Innenarchitektin und gelernte Journalistin in zwölfjähriger Beratungstätigkeit im Trendbüro Hamburg, dem sie von 2007 bis 2012 als Geschäftsführerin vorstand. Seit 2012 forscht sie unter eigenem Namen, besucht Pioniere weltweit und verdichtet ihre Erkenntnisse in ihren „New-Work-Order“-Studien, die sie im Auftrag des IBA (Industrieverbands Büro- und Arbeitswelt e.V.) erstellt. Birgit Gebhardt war von 2012 bis 2015 Mitglied der Expertenkommission der Bertelsmann-Stiftung mit dem Fokus „Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland“. Sie ist Mitglied des Münchner Kreises, des „New Work“ Ideenlabors von XING sowie im wissenschaftlichen Beirat der Liechtensteinischen Stiftung Zukunft.li.