Wirtschaft, Gesellschaft

Wie wir unsere Wirt­schaft retten? Durch gravie­rende Muster­wechsel!

Unser Wohlstand, unsere Zukunft und der soziale Frieden in Deutschland stehen auf dem Spiel. Daher reichen keine kleinen Änderungen mehr, kein Justieren von Stellschrauben oder ein neues Gesetz zur Anpassung von Was-auch-immer. Was wir brauchen, ist eine echte Veränderung, ein Musterwechsel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein Musterwechsel tritt dann ein, wenn Menschen, Unternehmen oder die Gesellschaft ihr altes Denken und Handeln in zentralen Punkten über Bord werfen und sich neue Denk- und Handlungsmuster aneignen. Welche Wege jetzt anstehen, haben wir Markus Väth, den Verfasser der New Work Charta und einen der führenden Köpfe der New-Work-Bewegung in Deutschland, gefragt.

Herr Väth, Sie sehen Deutschland an einem Wendepunkt. Betrifft das nur die Wirtschaft oder die Gesellschaft insgesamt?

Ich sehe gravierende Veränderungen in beiden Bereichen. Wir haben es mit einer sich verstärkenden Problemkette zu tun: Innovationsarmut, Arbeitskräftemangel, verkrustete Strukturen in der Wirtschaft einerseits und ein dysfunktionales politisches System, gesellschaftliche Spaltungen und eine katastrophale Bildungspolitik andererseits.

Der Soziologe Max Weber sprach von der Gesellschaft als einer Gesellschaft der „Wertsphären“. Dazu gehören Politik, Wirtschaft, Kunst, Religion, Wissenschaft etc. Diese Sphären brauchen und regulieren einander. Jede Sphäre muss funktionieren, darf aber auch nicht zu mächtig werden. Weber postulierte, dass eine Gesellschaft kollabieren könnte, sollten die Sphären instabil werden. Genau das geschieht momentan: In der Politik steht das westliche Demokratie-System grundsätzlich in Frage; die Reputation von Politikern ist am Boden, es herrscht der Eindruck fehlender Führung und Inkompetenz. Im Gegenzug erleben wir Disruptionen in der Wirtschaft, das Zusammenbrechen von Lieferketten und wenig Zukunftsoptimismus. Das alles erzeugt eine gefährliche Mischung aus Defätismus und Aggression.

Sie haben sieben Ideen entwickelt, mit denen wir unser Land für die Zukunft gut aufstellen können – und setzen im ersten Schritt bei unserem Wirtschaftssystem an. Der Kapitalismus hat einen schlechten Ruf und gilt vielen als böse und zerstörerisch, weist aber durchaus auch gute Seiten auf. Wo sehen Sie hier Handlungsbedarf?

Der Kapitalismus in extremer Form hatte in Deutschland noch nie eine Chance – und das ist auch gut so. Wir haben mit unserer Sozialen Marktwirtschaft eine gemäßigte und tragfähige Version von Kapitalismus erzeugt. Allerdings nehme ich gerade in Deutschland ein geradezu neurotisches Verhältnis der Menschen zum Kapitalismus wahr: Einerseits soll er uns mit Waren und Dienstleistungen versorgen, andererseits ist es uns fast peinlich, dass wir ihn brauchen – ungefähr wie ein Onkel, den man zu Weihnachten immer einlädt, weil er zur Familie gehört, der allen aber unangenehm ist, weil er zu viel trinkt und dann ausfällig wird.

Musterwechsel

Für einen „aufgeklärten Kapitalismus“ brauchen wir unter anderem zweierlei: Erstens müssen wir kapitalistische Exzesse konsequent bekämpfen, sonst verlieren die Menschen ihr Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung. Zweitens sollten wir das Thema Wirtschaft schon in der Schule quantitativ und qualitativ aufwerten. So hat beispielsweise eine Studie von über fünfzig deutschen Schulbüchern aufgezeigt, dass wirtschaftliche Inhalte teilweise verzerrt oder schlicht falsch dargestellt wurden. Provokant formuliert, verdienen Schüler eine fairere Chance, sich mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen.  

Sie sagen, Wirtschaft und Politik verstehen sich nicht – dabei hat man oft den Eindruck, dass die beiden Bereiche allzu eng miteinander verknüpft sind, oder?

Oft wird am Verhältnis von Wirtschaft und Politik der Lobbyismus kritisiert – und das zurecht. Wenn beispielsweise Gesetzestexte eins zu eins aus Beratervorlagen übernommen werden, zeigt das keine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Materie. Aber man muss auch sehen, dass Manager und Politiker völlig unterschiedlich ticken. Wirtschaft funktioniert schnell, dynamisch, risikobereit. Politik agiert genau andersherum: langsam, träge, sicherheitsorientiert. Daher verzweifeln viele Unternehmer oft am Agieren der Politik. Schauen Sie sich beispielsweise den Digitalpakt der Regulierung an: Das Problem ist nicht das fehlende Geld, sondern die komplizierten Anträge.

Das System sabotiert sich selbst. Bürokratie und fehlende Bedürfniskommunikation ist das erstickende Element in Zusammenarbeit von Wirtschaft und Politik. Darüber können auch spektakuläre Wechsel von Einzelpersonen zwischen Wirtschaft und Politik nicht hinwegtäuschen.

Unsere Erzählung vom Kapitalismus muss sich verändern, sagen Sie und kritisieren unter anderem die Medien für ihre einseitige Sicht. Was schlagen Sie vor, um das zu ändern?

Musterwechsel Journalismus

Wir brauchen nichts weniger als eine Re-Professionalisierung von Journalismus. In den letzten Jahren hat sich ein äußerst bedenklicher „Haltungsjournalismus“ etabliert. Ich halte das nicht nur für unprofessionell, sondern für demokratiegefährdend. Als Medienkonsument möchte ich Fakten, ihre Einordnung in den Kontext und meinetwegen auch eine – deutlich gekennzeichnete – persönliche Bewertung. Aber meine Meinung will ich mir selbst bilden. Medien sollten informieren und nicht erziehen. Daher könnten wir beispielsweise die Zahlung der GEZ-Gebühr an die nachvollziehbare Darstellung unterschiedlicher politischer Standpunkte knüpfen. Auch Pro-Kontra-Formate, wie beispielsweise in den frühen Jahren des ZDF-Magazins „Frontal“ üblich, sollten wir in den Medien wieder verstärken.

Auch unser Blick auf Arbeit muss sich ändern – wir denken in Deutschland noch zu sehr in alten Mustern: Vollzeitjob, 40 Stunden, am besten verbeamtet und mit solider Ausbildung. Was ist falsch daran?

Im Grunde ist es völlig verständlich, wenn Menschen einen sicheren, langfristigen Job wollen. Das wollen übrigens auch junge Menschen, wie beispielsweise die Shell-Jugendstudie von 2019 gezeigt hat. Bedenklich wird es, wenn die „motivationale Verteilung“ in der Bevölkerung kippt. Nach einer Befragung der Unternehmensberatung EY wollen vierzig Prozent der Studenten beim Staat arbeiten! Wir brauchen aber auch die Wilden, die Entrepreneure, die Risikobereiten – ganz abgesehen davon, dass viele Unternehmen in der heutigen Zeit gar keine Jobgarantie mehr abgeben können. Selbst wenn sie solide wirtschaften, kann ihnen das Licht ausgeblasen werden – schauen Sie sich beispielsweise die Automobilindustrie an oder die Energiebranche. Dort kollabieren gerade reihenweise Unternehmen wegen der hohen Gaspreise. Wir können uns einfach kein Volk der Beamten leisten. Wir müssen die Arbeitswelt attraktiv machen für andere Erwerbsmodelle, Mosaikkarrieren, lebenslange Bildung etc. Das gelingt uns nicht, und daher sagen die Menschen natürlich: Hauptsache, ich hab‘ einen sicheren Job!

Vielen Menschen fehlt die Wertschätzung im Job – Sie sprechen dabei vom „psychologischen Arbeitsvertrag“. Was hat es damit auf sich?

Beim Arbeitsvertrag denken wir an den schriftlichen Vertrag, mit Arbeitszeiten, Vergütung etc. Der psychologische Arbeitsvertrag hingegen wird inoffiziell, in der Regel unbewusst, geschlossen. Er regelt die gegenseitigen Erwartungen zu Leistung und Motivation, die Arbeitskultur, inoffizielle Belohnungen und Bestrafungen und so weiter. Das wird von den meisten Unternehmen aus Unkenntnis nicht thematisiert; dabei ist der psychologische Arbeitsvertrag unglaublich wichtig. Vielleicht kennen Sie den Spruch: „Man kommt wegen der Aufgabe und geht wegen der Führungskraft.“

Oft stecken hier unausgesprochene oder unerfüllte gegenseitige Erwartungen des psychologischen Arbeitsvertrages dahinter. Und das Unternehmen fragt sich vielleicht: „Wieso geht die denn? Wir haben gar nicht gemerkt, dass da was nicht stimmt.“ Weil der psychologische Arbeitsvertrag meist unbewusst geschlossen und unbewusst gebrochen wird.

Musterwechsel Arbeitswelt

In unserer Arbeitswelt fehlt es nicht nur an Wertschätzung, sondern auch an Sinnhaftigkeit. Warum ist der Purpose heute und in Zukunft so wichtig?

Das Thema Purpose wird meiner Meinung nach zu sehr aufgeladen. Manche Unternehmen strengen sich wahnsinnig an, um irgendeinen Purpose zu kreieren. Dabei kann ein Purpose nicht „gestaltet“ werden – sondern nur gefunden. Denn er hat mit den Wurzeln eines Unternehmens zu tun, mit dem Gründungsmythos. Steve Jobs hat ja auch nicht in der Garage gegründet, weil er sich gesagt hat: Das gibt mal einen super Gründungsmythos und tollen Purpose. Jobs hatte damals einfach kein Geld - Punkt. Zum Gründungsmythos wurde es erst hinterher. Da ist die persönliche Sinnhaftigkeit des Einzelnen wichtiger: Kann ich in meiner Arbeit meine Stärken ausspielen? Bin ich wirksam? Habe ich hier eine Entwicklungsperspektive? Erfolgreichen Unternehmen wird es in Zukunft gelingen, den persönlichen Arbeitssinn der Mitarbeiter anzudocken an ihren Organisationszweck. Manche mögen dies zum emotionalen Purpose aufladen – oder eben nicht.

Nicht zuletzt ist die Digitalisierung ein entscheidender Punkt, wenn es um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands geht. Sie plädieren dabei für eine „Kultur des Digitalen“ – was ist darunter zu verstehen?

Digitalisierung ist für viele Unternehmen noch so etwas wie ein „Projekt“. Aber die Digitalisierung ist so bedeutend wie der Buchdruck oder die Erfindung der Glühbirne. Sie verändert einfach alles. Nehmen Sie Kleidung als Beispiel: Niemand startet morgens das Projekt „Anziehen“, so als ob man eine Wahl hätte. Wir ziehen uns ganz selbstverständlich an und beginnen unser Tagwerk. Im Moment ist es – im übertragenen Sinne - aber so, als ob manche morgens nackt aus dem Haus gehen würden, um mal zu schauen, wann und ob sie das Projekt „Anziehen“ umsetzen wollen. Im Alltag kommt bei fehlender Kleidung ganz schnell die Polizei, in der Wirtschaft bei fehlender Digitalisierung die Insolvenz. Eine Kultur des Digitalen akzeptiert, dass jeder Teil unseres Alltags künftig von der Digitalisierung beeinflusst oder gar bestimmt wird. Das ist eine Frage des kollektiven Bewusstseins, nicht der Technik.

Über den Autor

Markus Väth ist Psychologe, Vordenker, Speaker und Autor. Er gilt als einer der führenden Köpfe der New-Work-Bewegung in Deutschland und ist Verfasser der New Work Charta, die sich für eine klare, humanistische und soziale Version von New Work einsetzt. Darüber hinaus hat er den Begriff "New Work Deal" für die politische Dimension Neuer Arbeit geprägt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigt ihm "kluge Gedanken" und "wichtige Anregungen", während die Wirtschaftswoche konstatiert, er habe "die philosophischen Utopien Frithjof Bergmanns in die Arbeitswelt geholt". 

Markus Väth ist Mitgründer und geschäftsführender Gesellschafter der humanfy GmbH. humanfy versteht sich als Think Tank für Neues Arbeiten und vernetzt Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die New Work voranbringen und die Zukunft der Arbeit gezielt gestalten wollen. Zu den Innovationen von humanfy gehört unter anderem der Ansatz des Organisationscoachings, mit dem sie Unternehmen bei einer individuellen und selbstbestimmten Transformation in die neue Arbeitswelt begleiten.

Markus Väth ist mehrfacher Buchautor, Host des Podcasts New Work Works und hat einen Lehrauftrag für New Work und Organisationsentwicklung an der Technischen Hochschule Nürnberg.