Von Markus Väth
Unsere Welt wäre nicht denkbar ohne Vertrauen. Jedes Baby vertraut darauf, dass seine Eltern es füttern, pflegen und beschützen. Jeder Schüler vertraut darauf, dass die Note durch seinen Lehrer wenigstens hinreichend fair und gerecht ist. Jeder Fußballspieler vertraut darauf, dass der Mannschaftskollege sein Bestes gibt. Und jeder Mitarbeiter vertraut darauf, dass sein Team ehrlich und kompetent zusammenarbeitet und dass sein Arbeitgeber ihn respektiert.
Der große Dichter William Shakespeare drückte es so aus:
»Zweifel sind Verräter, sie rauben uns, was wir gewinnen können, wenn wir nur einen Versuch wagen.«
In diesem Sinne ist Vertrauen die Grundlage auch für jede unternehmerische Aktion im Großen und Kleinen. Nichtvertrauen lähmt. Man investiert Denken und Fühlen in mögliche pessimistische Szenarien, in denen man materiell oder ideell übers Ohr gehauen wird.
Nun sollte man annehmen, Unternehmen würden enorme Anstrengungen tätigen, um in Verantwortung und Vertrauen zu investieren. Aber leider ist es sowohl beim Thema Verantwortung als auch beim Vertrauen nicht gut um die deutschen Unternehmen bestellt.
Dabei beginnt die Vertrauenskrise bereits jenseits von Werkstoren und Büros. So ergab eine Studie aus dem Jahr 2019, dass bei den Deutschen das Vertrauen in die Marke »Made in Germany « in den letzten Jahren von 76 auf 60 Punkte abgestürzt ist (Maximalwert: 100 Punkte). Ähnlich stark hat die Marke im internationalen Vergleich gelitten: US-Amerikaner, Briten und Franzosen reduzierten ihre Wertschätzung für »Made in Germany« in fünf Jahren von 63 auf 44 Punkte. Und dabei sind Skandale wie Wirecard oder Cum-ex noch gar nicht eingepreist.
Unternehmen sind keine Maschinen – Mitarbeiter sind keine Zahnrädchen
Deutschlands Ruf als Hersteller exzellenter Produkte, die Digitalisierungskompetenz von Arbeitskräften, das unverantwortliche Unternehmertum von Konzernen: Überall scheint es an Vertrauen zu hapern.
Wirft man einen Blick in das Management und die Führung von Unternehmen, setzt sich der Vertrauensverlust nahtlos fort. Verantwortlich dafür ist unter anderem ein Organisations- und Menschenbild, das seit nunmehr fast 100 Jahren die Managementtheorie beherrscht. Hier werden Organisationen als Maschinen beschrieben, deren Mitarbeiter Zahnrädchen gleich funktionieren und eins ins andere greifen. Organigramme sind in diesem Sinne die Baupläne dieser komplizierten Maschine, die ihrer rationalen Funktion folgt und entsprechend Waren oder Dienstleistungen herstellt. Management im klassischen Sinne hat hier noch nicht viel mit der reflektierten Führung von Menschen zu tun. Vielmehr geht es im klassischen Management um Planung, Anweisung, Koordination und Kontrolle. Das gesamte Denken einer Organisation als Maschine stammt einerseits aus der industriellen Revolution (die wiederum bestimmte Ideen für das Management von Organisationen aus dem Militär entliehen hatte). Andererseits aus der wissenschaftlichen Betriebsführung von Frederick Taylor, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erforschte, wie man die industrielle Produktion effektiver und effizienter machen konnte. Aus Taylors geistigem Nachlass stammt beispielsweise die Trennung von Hand und Kopf. Während Manager die Produktion planen und das Unternehmen steuern, übernehmen einfache Arbeiter die Handarbeiten, bedienen Maschinen und stehen am Band. Diese Trennung von Kopf und Hand hat sich tief in unser kollektives Unterbewusstsein eingebrannt. Viele Unternehmen funktionieren immer noch nach dem Prinzip: »Lass mich das machen, davon verstehst du nichts!« Die oberen Hierarchien halten es für selbstverständlich, über sämtliche Aspekte der unteren Chargen zu bestimmen.
In diesem Organisationsbild ist der Mensch nur als Produktionsfaktor vorgesehen. Man braucht buchstäblich nur seine Hände, weniger seinen Kopf. Daher sind für das Organisationsmodell der Maschine menschliche Dimensionen wie Vertrauen fast unbedeutend. Alle Interaktionen, beispielsweise Arbeitsanweisungen, finden innerhalb der Dynamik Befehl und Gehorsam statt. Motivation ist ebenfalls irrelevant. Welches Zahnrad besitzt schon Motivation? Das menschliche Zahnrad wird bezahlt, und wenn es nicht mehr funktioniert, wird es ausgetauscht. Im postmodernen Kapitalismus der Clickworker, Leiharbeiter oder Lieferdienste herrscht übrigens wieder genau dieses überwunden geglaubte Maschinenmodell. Organisationsentwickler, Philosophen und Führungskräfte arbeiten seit Jahrzehnten daran, dieses Organisationsmodell, das Vertrauen und Motivation tötet, abzuschaffen. Dabei erlebt es durch die totale Digitalisierung aller Lebensbereiche und den digitalen Kapitalismus seine fröhliche Wiederauferstehung. Das kann man akzeptieren. Aber wollen wir wirklich unsere Arbeitsgesellschaft auf eine immer größere Schar von prekär Beschäftigten, Leiharbeitern, Minijobbern und Clickworkern aufbauen, die in Maschinen-Organisationen und auf digitalisierten Plattformen verschlissen werden? Fehlendes Vertrauen in Unternehmen erzeugt Maschinen-Organisationen – diese wiederum produzieren menschliche Zahnräder, die mal gebraucht werden und mal nicht. Aber dann ist es das Problem des Zahnrads. Eine solche Organisationslandschaft können wir nicht ernsthaft wollen.
Homeoffice schadet der Wirtschaft
Auch abseits eines überkommenen Maschinenmodells, das noch in vielen Köpfen herumspukt, arbeiten wir leider intensiv daran, in Unternehmen das gegenseitige Vertrauen zu zerstören. So hat die Corona-Krise eine beispiellose Homeoffice-Welle gebracht. Millionen Arbeitnehmer wanderten ins heimische Arbeitszimmer, von wo aus sie versuchten, mental und produktiv nicht den Anschluss an ihr Team und an ihre Führungskraft zu verlieren. Denn diese Gefahr und der damit verbundene mögliche Vertrauensverlust ist real: »Die fehlenden Möglichkeiten für zwischenmenschlichen, physischen Kontakt führen teilweise dazu, dass die soziale Isolation zunimmt und die emotionale Bindung zum Arbeitgeber abnimmt. […] Man geht davon aus, dass diese Demotivation, die mit Unproduktivität einhergeht, einem wirtschaftlichen Schaden von etwa 100 Mrd. Euro jährlich entspricht.«
Leider reagierten viele Führungskräfte in dieser fundamentalen Herausforderung nicht angemessen. Anstatt sich der neuen Situation des Remote Leadership, der Führung auf Distanz, anzupassen und ihren Mitarbeitern einen Vertrauensvorschuss zu geben, erlagen viele Führungskräfte ihrem gewohnten Kontrolldenken und einem veritablen Misstrauen. So zeigte sich in einer australischen Studie aus dem Jahr 2020, dass 38 Prozent der Führungskräfte der Meinung sind, dass Mitarbeiter im Homeoffice schlechtere Arbeit leisten als ihre Kollegen im Büro. 41 Prozent fürchten, ihre Mitarbeiter blieben im Homeoffice nicht langfristig motiviert. Dabei erwiesen sich drei Gruppen als besonders misstrauisch und kontrollverliebt: erstens männliche Führungskräfte; zweitens Führungskräfte, die selbst von ihrer Führungskraft eng überwacht wurden; und drittens Führungskräfte, die sich eher als Technik- oder Verwaltungsexperte sahen und nicht in erster Linie als Führungskraft. Dieses Studienergebnis verdeutlicht den immer noch starken Einfluss des Maschinen-Organisationsbilds (hier braucht man vor allem Technik- und Verwaltungsexperten). Zudem zeigt es den schädlichen Einfluss einer Führungstradition, in der man selbst eng kontrolliert wurde und dieses Führungsverständnis wiederum an seine Mitarbeiter weitergibt.
Kommunikation ist die Rettung für Remote-Working
Das Homeoffice-Experiment ist für viele Führungskräfte der Lackmus-Test ihrer Führungsphilosophie. Wie weit vertraue ich meinen Mitarbeitern, wenn ich sie nicht mehr jeden Tag physisch im Büro kontrollieren kann? Inwieweit haben Sonntagsreden von »mehr Vertrauen wagen« Substanz oder bleiben eben genau das: Sonntagsreden, die das tiefer liegende Maschinenmodell überdecken sollen? Denn Führung auf Distanz braucht, genau wie jede Form von Führung und Zusammenarbeit, eine gelingende Kommunikation, deren Hauptbestandteile Ehrlichkeit und Respekt sind. Man kann durchaus hart in der Sache und verbindlich im Ton gleichermaßen bleiben. Ehrlichkeit und Respekt sollten die Grundlage jeder Zusammenarbeit sein – aber genau hier versagen viele Unternehmen in erschreckendem Ausmaß. Das reicht von einer Abwatsch-Kultur in Meetings über offene Misstrauensbekundungen bis hin zu notdürftig kommentierten Entlassungen.
Es gibt kaum einen Bereich, wo Unternehmen und Führungskräfte so ungeschickt agieren wie in der Kommunikation mit ihren Mitarbeitern. Hier wird enorm viel Vertrauen verspielt, meist, weil man sich nicht an die drei einfachen Säulen Ehrlichkeit, Transparenz und Respekt hält. Unternehmen handeln in der Regel immer noch nach der informationspolitischen Devise »so viel Information wie nötig, so wenig wie möglich«. Information wird als politische Waffe gebraucht, als Machtinstrument – manchmal aus bösem Willen, manchmal auch einfach, um in seinem kleinen Verantwortungskästchen der König zu sein. »Wissen ist Macht!«, wie ein Sprichwort sagt. Und weniger Wissen des einen kann mehr Macht für den anderen bedeuten – ein entscheidender Chip im Spielcasino der Mikropolitik, bei der es um Einfluss und Informationshoheit geht. Die Frage für moderne Unternehmen lautet: Wie weit wollen sie sich dem Spiel der restriktiven Informationspolitik und der kümmerlichen Kommunikation beugen? Wie stark sind Unternehmen bereit, durch die Verletzung der Prinzipien Ehrlichkeit, Transparenz und Respekt ihre Vertrauensbasis zu schädigen, Mitarbeiter zu vergraulen und letztlich auch den Unternehmenserfolg zu riskieren?
Wenn wir von Vertrauensaufbau und -verlust in Unternehmen sprechen, müssen wir sowohl das interpersonale Vertrauen von Mensch zu Mensch als auch das Systemvertrauen des Einzelnen in die Organisation in den Blick nehmen. Erfolgreiche Unternehmen sorgen dafür, dass beide Arten von Vertrauen wachsen und differenziert werden können. Der Schlüssel dazu sind die Prinzipien Ehrlichkeit, Transparenz und Respekt, die sowohl für die interne Kommunikation, für CEO-Mails und Townhall-Meetings gelten sollten als auch für das persönliche Gespräch unter Kollegen oder das Feedback-Gespräch mit der Führungskraft. Doch offensichtlich sind wir noch nicht so weit. Wie wären das allgegenwärtige Misstrauen gegenüber offiziellen Firmenverlautbarungen, das Unterstellen einer geheimen Agenda und das angebliche Schönfärben von Informationen in der Wirtschaft sonst zu erklären?
Verrat wiegt schwerer als Vertrauen
Jedes Mal, wenn ein Manager beim Lügen ertappt wird, glauben wir, unser Weltbild bestätigen zu können. Dann sind wir überzeugt, dass die Welt schlecht ist und man den Leuten einfach nicht trauen kann. Diese Wahrnehmung, die von einer skandalisierenden Presse oftmals noch angeheizt wird, führt jedoch in die Irre und verringert unsere Fähigkeit, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen. Schlimmer noch: Wenn alle mich betrügen wollen, sollte ich dann nicht auch betrügen? Im Sinne einer pervertierten Form von Fairness beginne ich vielleicht auch, selektiv zu kommunizieren, Information als Waffe zu gebrauchen und den anderen eben nicht mit Ehrlichkeit, Transparenz und Respekt zu behandeln.
All das führt zu einer potenziellen Dynamik des Misstrauens und der gegenseitigen Übervorteilung – in einer Welt, die auf Komplexität und Kommunikation gebaut ist, ist das ein ökonomisches Todesurteil. Ein niederländisches Sprichwort sagt:
»Vertrauen kommt zu Fuß, aber flieht zu Pferde.«
Wir brauchen relativ lange, um einer Person oder einem Unternehmen zu vertrauen. Zerstört ist das Vertrauen hingegen schnell. Wir alle kennen Situationen, in denen wir von anderen enttäuscht und unser Vertrauen missbraucht wurde. Auch wenn wir solchen Menschen eine zweite Chance geben, bleibt uns dieser Verrat in der Regel lange im Gedächtnis.
In Unternehmen haben wir nun die bemerkenswerte Situation, dass Menschen miteinander arbeiten, die sonst keine soziale Bindung unterhalten. Das ist ja gerade der Unterschied zur Familie. Die funktioniert nach eigenen Regeln. »Blut ist dicker als Wasser!« – das gilt nun mal nicht für die Mitarbeiter eines Callcenters oder das Entwicklerteam einer Softwarefirma, auch wenn in letzter Zeit das Bild der Organisation als Familie strapaziert wird bzw. man versucht, das gegenseitige Vertrauen durch einen gemeinsamen Purpose aufzuladen. Oft probiert man dann, Führung und Kommunikation mit einem informellen Ton, einem ausgeprägten Duz-Stil oder dem Verzicht auf Statussymbole anzureichern. Diese Bemühungen enden aber nicht selten nur in einer Art von simuliertem Vertrauen. Doch damit kann man schwierige soziale Dynamiken nicht lösen. Viele Führungskräfte kennen beispielsweise das »Buddy-Problem«: Eben noch Kollege und auf gleicher Vertrauensebene, sind sie auf einmal weisungsbefugt und müssen mit ihren Ex-Kollegen die Währungen Ehrlichkeit, Transparenz und Respekt neu aushandeln. Keine leichte Aufgabe.
Vertrauen ist das Fundament für ein funktionierendes Office
Vertrauen stellt eine Universalwährung im Unternehmen dar. Es ist der Bitcoin der Unternehmenskultur: dezentral verteilt, jeder kann es herstellen, man kann schnell reich werden oder alles verlieren. Alle Mitarbeiter eines Unternehmens haben zu Beginn ihrer Tätigkeit ein gewisses Volumen an Vertrauensbereitschaft »auf dem Konto«, das sie an ihr Umfeld vergeben können. Nicht umsonst heißt es im Deutschen, wir »schenken jemandem Vertrauen«. Wir geben sozusagen einen Teil unseres Kontoguthabens her, erwarten dafür aber auch, dass der andere uns buchstäblich wiederum Vertrauen schenkt. In einer idealen Welt erhöhen sich die gegenseitig geschenkten Vertrauensbeträge bis hin zu dem Stadium, in dem man sich blind vertraut. Das bleibt in der Regel die Ausnahme. Aber wenn es eintritt, ist es sehr erfüllend und macht einen wichtigen Teil der Arbeitsqualität aus.
In der Realität entstehen dagegen oft Zahlungsdifferenzen: Man schenkt dem anderen Vertrauen, während dieser uns noch mehr kontrolliert oder unser Vertrauenskonto leer räumt. Das Vertrauenskonto ist Bestandteil des psychologischen Arbeitsvertrags und wird vom Einzelnen durchaus oft geprüft. Daher sind Zahlungsdifferenzen und ein gestörtes Vertrauensverhältnis nicht selten ein Gesprächsthema in Unternehmen – wenn sie auch nicht so genannt werden. Dabei ist Vertrauen neben Verantwortung die wichtigste Säule, auf der ein Unternehmen und die erfolgreiche Zusammenarbeit seiner Mitarbeiter ruht. 100 Jahre nach Frederick Taylors bahnbrechender Erfindung der wissenschaftlichen Betriebsführung ist es Zeit, das maschinenorientierte Organisationsbild und das Menschenbild des Zahnrads endgültig zu begraben. Industrielle Produktion, Globalisierung und Digitalisierung haben unsere Arbeitswelt revolutioniert. Wenn der Mensch in der Arbeitswelt der Zukunft eine relevante und wertschöpfende Rolle spielen soll, müssen wir unsere Unternehmen in puncto Verantwortung und Vertrauen möglichst bald fit machen.
Über den Autor
Markus Väth ist Psychologe, Vordenker, Speaker und Autor. Er gilt als einer der führenden Köpfe der New-Work-Bewegung in Deutschland und ist Verfasser der New Work Charta, die sich für eine klare, humanistische und soziale Version von New Work einsetzt. Darüber hinaus hat er den Begriff "New Work Deal" für die politische Dimension Neuer Arbeit geprägt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigt ihm "kluge Gedanken" und "wichtige Anregungen", während die Wirtschaftswoche konstatiert, er habe "die philosophischen Utopien Frithjof Bergmanns in die Arbeitswelt geholt".
Markus Väth ist Mitgründer und geschäftsführender Gesellschafter der humanfy GmbH. humanfy versteht sich als Think Tank für Neues Arbeiten und vernetzt Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die New Work voranbringen und die Zukunft der Arbeit gezielt gestalten wollen. Zu den Innovationen von humanfy gehört unter anderem der Ansatz des Organisationscoachings, mit dem sie Unternehmen bei einer individuellen und selbstbestimmten Transformation in die neue Arbeitswelt begleiten.
Markus Väth ist mehrfacher Buchautor, Host des Podcasts New Work Works und hat einen Lehrauftrag für New Work und Organisationsentwicklung an der Technischen Hochschule Nürnberg.