In den letzten Jahren tritt ein Thema immer mehr in den medialen Vordergrund, das uns Deutschen die Sorgenfalten auf die Stirn treibt: die eigene Unzulänglichkeit, wenn es um unsere politische Kompetenz geht, um Krisenmanagement, wirtschaftliche Innovation oder gesellschaftliche Probleme wie Armut oder Migration. Wir Deutschen, an unseren Ruf als Land der Dichter und Denker ebenso gewöhnt, wie an das Dauerabonnement in den Spitzenplätzen der Exportwirtschaft, machen uns bei den großen Herausforderungen unserer Zeit zunehmend lächerlich. Selbst ausländische Medien wie die „New York Times“ oder die „Neue Zürcher Zeitung“ fragen sich mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit, was in ‚good old Germany‘ los ist.
Bei den großen Themen versagen wir
Natürlich gelingen uns kleinere Vorhaben und Initiativen in der Regel immer noch. Aber überall, wo es groß wird, komplex, wo Koordination, Kompetenz und Wille gefragt sind, versagen wir. Der Berliner Flughafen, Stuttgart 21, die elektronische Gesundheitskarte, die digitale Infrastruktur, der Wohnungsnotstand in Ballungsgebieten, die flächendeckend maroden Schulgebäude, der schleppende Ausbau erneuerbarer Energien: Diese und viele andere Beispiele machen gnadenlos klar, dass wir Deutschen es im Gegensatz zu unserer Selbstwahrnehmung ‚nicht mehr draufhaben‘.
Wir leben von der Substanz
Wir leben von unserer politischen, wirtschaftlichen und technologischen Substanz. Autobahnen, Brücken und Tunnel sind vielerorts marode und müssten dringend saniert werden. Wir haben mit der krisengeschwächten Deutschen Bank und der heruntergewirtschafteten Commerzbank keine nationale Bank von Weltrang mehr. Alle großen Energiekonzerne filetieren sich selbst, suchen ihr Heil in der Aufspaltung oder in neuen Geschäftsmodellen. Die Autokonzerne haben viel zu spät die Zeichen der Zeit erkannt und kommen jetzt erst mit den Themen E-Mobilität und autonomem Fahren in die Gänge. Unser Bildungssystem ist nicht im Ansatz auf die beruflichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet, sondern bringt standardisierte Fließband-Angestellte für Verwaltung, Fabriken und Büros hervor. All diese Probleme bestanden schon vor der Coronakrise, manche seit 20 Jahren und länger. Passiert ist wenig bis nichts.
Unser Wohlstand und unsere Zukunft stehen auf dem Spiel
Mittlerweile ist es fast zu spät. Unser Wohlstand, unsere Zukunft und der soziale Frieden in Deutschland stehen auf dem Spiel. Daher reichen keine kleinen Änderungen mehr, kein Justieren von Stellschrauben oder ein neues Gesetz zur Anpassung von X. Was wir brauchen, ist eine echte Veränderung, ein Musterwechsel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein Musterwechsel tritt dann ein, wenn Menschen, Unternehmen oder die Gesellschaft ihr altes Denken und Handeln in zentralen Punkten über Bord werfen und sich neue Denk- und Handlungsmuster aneignen – weil man erkennt, dass man nur so das Überleben sichert und neue Ziele erreicht.
Wir brauchen ein echte Veränderung – einen Musterwechsel
Ein Beispiel für einen Musterwechsel ist der Übergang zum sogenannten Fosbury-Flop im Hochsprung, benannt nach Richard Douglas Fosbury. Von Sportexperten und der Konkurrenz kritisch beäugt bis verlacht, übersprang Fosbury bei den Olympischen Sommerspielen 1968 als erster Mensch die Hochsprunglatte rückwärts und gewann. In kurzer Zeit wurde der Fosbury-Flop zur Standardtechnik, auch weil die Hochsprung-Gemeinde erkannte: Mit der neuen Technik lässt sich der seit Jahren gültige Weltrekord knacken – was auch geschah. Heute liegt der Hochsprungweltrekord der Männer bei 2,45 Meter, erzielt mit einem Fosbury-Flop.
„Wir müssen uns eingestehen, dass wir immer noch alte Lösungen für neue Probleme anwenden. Und das ist nicht mehr zielführend.“
Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Fosbury-Flop. Wir müssen uns eingestehen, dass wir immer noch alte Lösungen für neue Probleme anwenden. Und das ist nicht mehr zielführend. So wie sich die politischen, technologischen und wirtschaftlichen Probleme im Lauf der Zeit wandeln, müssen wir unsere traditionellen Denk- und Handlungsmuster hinterfragen. Wir müssen wie Richard Fosbury den Mut haben, neue Dinge auszuprobieren – auch auf die Gefahr hin, lächerlich auszusehen oder zu scheitern. Sonst wird Deutschland auf Dauer seinen Wohlstand nicht halten können, sondern international immer weiter ins Hintertreffen geraten: wirtschaftlich, technologisch, politisch.
7 Ideen für einen Musterwechsel
Im Folgenden habe ich sieben Ideen anskizziert, mit denen wir einen wirksamen Musterwechsel und wirklich neue Denk- und Handlungsmuster herbeiführen können. In einer gesellschaftlichen Perspektive sollten wir einen selbstbewussten, aber auch wohlwollenden Umgang mit unserem kapitalistischen System pflegen, flankiert von einer Kultur des Digitalen, einer revolutionierten Bildung und dem Ziel des Gemeinwohls. In einer wirtschaftlichen Perspektive sollten wir unsere Arbeitswelt um zentrale Prinzipien herum bauen, die ein Gleichgewicht finden zwischen den Ansprüchen ökonomischer Produktivität und der Würde menschlicher Arbeit. Konkret heißt das: Wertschöpfung durch Wertschätzung, sinnvolle Arbeit und New Work als Wirkprinzip von Unternehmen:
1. KAPITALISMUS: Besser als sein Ruf
Auf der Idee des Kapitalismus fußt unser gesamtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland lebt eine gemäßigte Spielart des Kapitalismus – zurecht. Aber in den letzten 50 Jahren ist der Kapitalismus auch hierzulande zunehmend in die Defensive geraten. Um einen Musterwechsel herbeizuführen, sollten wir den Kapitalismus fair bewerten und neu über ihn nachdenken. Dazu gehört auch, dass wir uns bereits von der Schule an kompetent und souverän mit diesem zentralen Gesellschaftselement auseinandersetzen.
2. WERTSCHÄTZUNG: Mehr als nur Geld und warme Worte
Eng mit einer Betrachtung eines modernen Kapitalismus sind die Fragen verbunden: Was ist Wertschöpfung überhaupt jenseits des traditionellen betriebswirtschaftlichen Modells? Und wie hängen Wertschöpfung und Wertschätzung für menschliche Arbeit zusammen? Um diese Fragen zu klären, sollten wir das Thema Wertschätzung in Form von Gehalt und dem damit verbundenen psychologischen Arbeitsvertrag sowie die neue Qualität von Arbeitszeit in einer Post-Corona-Wirtschaft diskutieren. Dann haben wir die Basis, um auf der Grundlage eines modernen Menschenbilds ein ganzheitliches Modell von Wertschöpfung jenseits betriebswirtschaftlicher Schemata zu entwerfen.
3. DIGITALISIERUNG: Die Vermessung des Neulands
Wertschöpfung fußt natürlich nicht nur auf Wertschätzung. Moderne Wirtschaft ist beispielsweise ohne eine konsequente Digitalisierung nicht denkbar – und die ist in Deutschland Mangelware. Hier gilt es, die zweifelhafte Rolle der Politik im Hinblick auf die Digitalisierung in Deutschland zu hinterfragen. Zudem sollten wir die Psychologie der Digitalisierung sowie die gesellschaftlichen Sorgen und Versprechungen, die damit verbunden sind, näher analysieren. So können wir die Grundlage für einen umfassenden Musterwechsel schaffen: eine umfassende Kultur des Digitalen, die über technologische Digitalisierungsdebatten hinausreicht.
4. SINNVOLLE ARBEIT: Die Kraft des Wozu
Im Zentrum jeder vernünftigen Wirtschaft muss – digitalisiert oder nicht – ein möglichst hoher Anteil sinnvoller Arbeit stecken. Nicht nur für gute Leistungen und Ergebnisse, sondern weil Arbeit ein wichtiger Teil des menschlichen Lebens ist. Hier sind Konzepte gefragt, um den Anteil sinnvoller Arbeit in der Wirtschaft zu erhöhen und Bullshit-Jobs zu reduzieren. Voraussetzung dafür ist eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Purpose-Bewegung und mit der Bedeutung von Wirksamkeit als entscheidendem Kriterium für berufliche Zufriedenheit.
5. MANAGEMENT: Neuer Wein in neuen Schläuchen
Ob sinnvoll oder nicht: Unser Arbeitsalltag findet in der Regel in kleinen und großen Organisationen statt. Und diese Organisationen werden immer noch nach Managementprinzipien gestaltet, die nicht mehr zu unserer dynamischen Zeit passen. Deshalb sollten wir den beiden entscheidenden Merkmalen erfolgreicher Organisationen mehr Beachtung schenken – Verantwortung und Vertrauen. Vom Handwerksbetrieb über den Mittelstand bis hin zur öffentlichen Verwaltung: Wir sollten uns an fünf Prinzipien halten, um moderne, erfolgreiche Organisationen aufzubauen. Diese fünf Prinzipien sind: Freiheit, Selbstverantwortung, Sinn, Entwicklung und soziale Verantwortung.
6. BILDUNG: Revolution in der Warteschleife
Neue und alte Unternehmen brauchen natürlich kluge Köpfe und gut ausgebildete Mitarbeiter. Aber an einer zeitgemäßen Bildung hapert es allerorten, nicht nur im Betrieb, sondern bereits in der Schule. Um einen Musterwechsel herbeizuführen, sollten wir uns klarmachen, wofür Schule tatsächlich da ist und warum wir Bildung endlich vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Das ist die Basis, für eine individuelle und selbstwirksame Bildung, die einen mündigen, kritischen Bürger hervorbringt, der auch in der zukünftigen Arbeitswelt bestehen kann und so den Anforderungen des 21. Jahrhunderts mit allen seinen Unwägbarkeiten entspricht.
7. GEMEINWOHL: Auf dem Weg in die Wir-Gesellschaft
Schließlich müssen wir auch die Rolle der Wirtschaft in unserer modernen Gesellschaft überdenken. Zentral ist hier der ökonomische Musterwechsel hin zum Stakeholder Value. Nicht weniger bedeutend ist der Trend zum Kollektiv-Denken in Gesellschaft und Politik, das einen epochalen Wandel von einer ich-zentrierten zu einer wir-zentrierten Perspektive darstellt. Vor diesem Hintergrund eröffnen sich völlig neue Möglichkeiten einer sozialen und nachhaltigen Wirtschaft, die von Meinungsfreiheit, demokratischer Beteiligung und Transparenz geprägt ist.
Diese sieben Punkte sind zentral, um unsere Wirtschaft zu retten. Mehr noch: Sie bilden die Grundlage für einen Musterwechsel, der weit über die Wirtschaft hinausreicht und ebenso gesellschaftliche und politische Veränderungen in Gang bringen kann. Ich bin überzeugt: Mit diesen sieben Ideen ist ein gesellschaftlicher Fosbury-Flop möglich. Lassen Sie uns den Musterwechsel in der Wirtschaft verwirklichen und die Zukunft gemeinsam in Angriff nehmen – mit Mut, Ausdauer und Kreativität!
Bildquelle: nicoletaionescu / istockphoto
Über den Autor
Markus Väth ist Psychologe, Vordenker, Speaker und Autor. Er gilt als einer der führenden Köpfe der New-Work-Bewegung in Deutschland und ist Verfasser der New Work Charta, die sich für eine klare, humanistische und soziale Version von New Work einsetzt. Darüber hinaus hat er den Begriff "New Work Deal" für die politische Dimension Neuer Arbeit geprägt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigt ihm "kluge Gedanken" und "wichtige Anregungen", während die Wirtschaftswoche konstatiert, er habe "die philosophischen Utopien Frithjof Bergmanns in die Arbeitswelt geholt".
Markus Väth ist Mitgründer und geschäftsführender Gesellschafter der humanfy GmbH. humanfy versteht sich als Think Tank für Neues Arbeiten und vernetzt Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die New Work voranbringen und die Zukunft der Arbeit gezielt gestalten wollen. Zu den Innovationen von humanfy gehört unter anderem der Ansatz des Organisationscoachings, mit dem sie Unternehmen bei einer individuellen und selbstbestimmten Transformation in die neue Arbeitswelt begleiten.
Markus Väth ist mehrfacher Buchautor, Host des Podcasts New Work Works und hat einen Lehrauftrag für New Work und Organisationsentwicklung an der Technischen Hochschule Nürnberg.