Viele klassisch aufgestellte Unternehmen aus dem Analogzeitalter, die in den letzten Jahren intensiv bis panisch oder agitiert über ihre zukünftige Digitalstrategie diskutierten, mussten irgendwann erkennen, dass die Digitalisierung trotz gewaltiger technischer und damit auch finanzieller Herausforderungen (neue Software-Infrastruktur/-Architektur) in allererster Linie ein äußerst analoges Problem ist:
Es geht darum, das einst mühsam analog aufgebaute Vertrauen in die eigene Leistung möglichst ohne Transferverluste in die digitale Welt zu überführen.
Dies muss die (neue) technische Infrastruktur leisten können, d. h. daraufhin muss die Software individuell für das Unternehmen »geformt« und wie ein Maßanzug zugeschnitten werden. Das Gute: Die digitalen Antworten müssen nicht immer sonderlich komplex sein. Manchmal ist der Transfer einfach, speziell wenn die Organisation sich nicht scheut, auch die scheinbar klitzekleinen Details des analogen Kundenerlebnisses in den Blick zu nehmen. Bei guter Markenführung geht es häufig um Details: Wer als Verantwortlicher nicht versteht, welche vertraute Größe diese scheinbar kleinen Details für seine Kunden darstellen, darf nicht mal in die Nähe einer Marke kommen.
Auf die Details kommt es an
Das kann das Ploppen eines Bügelverschlusses aus Flensburg sein, welches seit 1888 den Original-Ton zum Original-Bier beisteuert und so für Ohr und Leber die nordische Hefe akustisch ankündigt. Ohne den ploppenden Verschluss wäre ein Flens kein Flens. Und laut Hersteller spart die jüngste Überarbeitung des innovativen Uralt-Verschlusses auch noch 150 Millionen Kronkorken ein.
Wenn z. B. ein Einzelhändler für die fundierte Produktberatung durch seine gut ausgebildeten Angestellten vor Ort bekannt ist, wenn Kunden gezielt sein Geschäft aufsuchen, weil sie dem dort vorhandenen Fachwissen vertrauen, so ist es seine Aufgabe in der Digitalpräsenz, genau diese Kompetenz individuell und attraktiv darzustellen. So attraktiv, dass der Digitalgast idealerweise nach wenigen Clicks nur noch pure Lust verspürt, die Beratung »live« zu erleben. Möglichst alles wird so aufgebaut, dass jeder Stammkunde bei Aufruf der Website sofort »sein« vertrautes Ladengeschäft erkennt.
Das kann bei einem Buchhändler bedeuten, dass die beliebten Tipps und handschriftlichen Leseempfehlungen der Angestellten, die im Geschäft ausliegen, auch im Internet »in« den Büchern liegen. Bei einem Restaurant kann es bedeuten, dass der Chef, der Chefkoch oder beliebte Kellner-Persönlichkeiten als Personen auf der Website auftauchen und dort agieren. Bei der sehr kleinen, aber für ihre Expertise berühmten Uhrmacherwerkstatt Georg Kramer bedeutet dies, dass die Klingel, die seit 60 Jahren ertönt, wenn ein Kunde die analoge Ladentür öffnet, auch klingelt, wenn ein Kunde die Website öffnet (auf der der Laden abgebildet ist). Der Kreativität im Rahmen des Markenkorridors sind kaum Grenzen gesetzt.
Der erste Eindruck zählt
Wer Vertrauen für seine Person oder Sache erzeugen will, der muss zuallererst Menschen von sich und seinen Qualitäten überzeugen. Möglichst einprägsam und nachhaltig. Ein eindrucksvoller Erstauftritt hilft immens beim Einstieg in jede Form der sozialen Beziehung: »You never get a second chance to make a first impression« lautet ein diesbezüglich gern genutztes Bonmot, das US-Entertainer-Legende und Lasso-Artist Will Rogers (1879 − 1935) zugeschrieben wird. Jedoch einen Menschen richtig wertschätzen zu lernen, ihn und seine Handlungen achten zu können, eine solche Entwicklung dauert normalerweise länger als eine Kurzimpression: Denn es geschieht über konkret wahrgenommene Leistungen und Handlungen im Laufe der Zeit.
Hier geht es dem Vertrauen wie der Liebe, zu der das Vertrauen seit jeher einen nicht unwesentlichen Beitrag leistet – wenngleich uns Marketeers und Mathematiker anderes glauben lassen wollen. So verliebt sich laut Claim alle 11 Minuten ein Single über »Parship«, Stiftung Warentest zertifiziert die gute Passgenauigkeit bei »ElitePartner« mit Siegel und beide Anbieter unterfüttern dies mit »beziehungssicheren« Rechenmodellen. Und parallel gibt es noch die anachronistischen Modelle wie Liebe auf den ersten (analogen) Blick. Doch Hand aufs (analoge) Herz: In den meisten Fällen benötigt zumindest die nachhaltige Beziehung zweier Menschen etwas mehr persönliche »Vorarbeit« … oder analoge Nacharbeit bei rein digitalem Kennenlernen. Egal wie: Am Ende wird es in Sachen Vertrauen immer konkret. Bis hin zum Austausch der Ringe.
Über den Autor
Prof. Dr. Arnd Zschiesche gehört zu den führenden Experten für wissenschaftliche Markenführung im deutschsprachigen Raum. Der Markensoziologe beschäftigt sich mit allen Fragen der strategischen Führung und langfristig orientierten Durchsetzung von Marken. Er ist Autor von 16 Sach- und Fachbüchern (bei GABAL „Marke ohne Mythos“/„Marke statt Meinung“), sowie kontinuierlich als Interviewpartner in den Medien vertreten (u.a. „ARD-Markencheck“, „Plusminus“). Zschiesche ist Mit-Gründer und seit fünfzehn Jahren Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg. Seit 2006 wurden dort 82 Marken wissenschaftlich analysiert und operative Empfehlungen für ca. 120 Marken ausgesprochen: Von Start-ups zu internationalen Konzernen, von der Pinneberger Baumschule über Sozialträger, Städte, staatliche Institutionen zu „Global Playern“ aus dem Mittelstand. Seit 2011 ist Zschiesche Dozent für Brand Management und Markensoziologie an der Hochschule Luzern Wirtschaft und hält regelmäßig Vorlesungen an der Universität Hamburg. Für eine von ihm mitbegründete europäische Eco-Design-Marke erhielt er mehrere Preise. In seinen Keynotes bezieht er deutlich und plakativ Stellung zu allem, was in Unternehmen derzeit in Sachen Markenführung missverstanden wird – und erklärt, warum es bei Marke ausschließlich um Vertrauen geht, nicht um Purpose, Storytelling oder sonstige Auswüchse des Zeitgeistes. Auch Digitalisierung und Industrie 4.0 hebeln uralte soziale Gesetzmäßigkeiten und menschliche Verhaltensmuster nicht aus.