Hach. Wann haben Sie das letzte Mal erschöpft geseufzt, weil schon wieder eine neue Chefin eingeführt, die Organisation neu strukturiert oder das Leitprinzip des Unternehmens aktualisiert wurde?
Hach. Oder vielleicht auch nur, weil das einstige Lieblingscafé durch ein neues ersetzt, der Sportkurs um eine halbe Stunde verlegt oder die Öffnungszeiten des Copyshops an der Ecke unerwartet geändert wurden?
Hach. Oder hat der Partner schon wieder die Vorratskammer umsortiert, um Ordnung zu schaffen?
Hach. Hach. Hach.
Die kleinste Situation vermag es zuweilen, uns aus der Bahn zu werfen. Oftmals verstehen wir gar nicht, warum genau diese Situation uns so unvorbereitet und schwer trifft. Fest steht jedoch: Sie, wir, sind nicht allein damit. Das beschriebene Phänomen nennt sich Change Exhaustion. Also: Erschöpfung in Anbetracht von Veränderung. Und die Veränderungen momentan fühlen sich nicht gerade klein an.
Erschöpfungsprävention
Die Zeiten, in denen wir leben, werden regelmäßig als solche des immer schnelleren Wandels beschrieben. Wandel, egal wie schnell, fordert immer von uns ein, uns in irgendeiner Weise zu diesem zu positionieren. Das kostet kognitive Kraft. Kognitive Kraft, die wir eigentlich für andere Aufgaben und zur Erreichung anderer Zukunftsziele eingeplant hatten. Manchmal fühlt sich Wandel also an wie das, was uns in die Quere kommt, während wir an unserer eigenen Vorstellung von Zukunft arbeiten. Dieser Text lehnt übrigens keineswegs den Wandel ab.
Als Person, die täglich mit Zukunft arbeitet, gehört das Nachdenken über und das Umsetzen von Veränderung gewissermaßen zu meinem Alltag. Und auch wenn es sich manchmal so anfühlt, passiert Wandel meist nicht einfach so. Eine Zukunftsentwicklung – und jetzt sprechen wir nicht mehr von kleinen Alltagsroutinen, sondern von größeren Veränderungen, die oftmals ganze Organisationen, Branchen und Gesellschaften erfassen – kann nur enorme Kraft entwickeln, wenn sie mit einer signifikanten Masse von Akteur*innen resoniert.
Manchmal sind wir Teil dieser Masse. Dann merken wir eventuell gar nicht, dass auch wir an anderer Stelle erschöpftes Seufzen auslösen. Doch wenn die Change Exhaustion uns selbst erfasst, denken wir schon mal: Der Wandel soll bitte in der Zukunft bleiben, vielen Dank.
Nun haben wir selbstverständlich die Wahl, einfach nicht auf den Wandel zu reagieren. Fakt ist jedoch: Nur weil wir nichts tun, heißt es nicht, dass sich um uns herum nichts tun wird. Veränderung passiert, ob wir wollen oder nicht. Wenn wir nichts mit dem Wandel machen, dann macht er irgendetwas mit uns, mit unseren Kolleg*innen, Organisationen, Branchen, mit unserer Gesellschaft.
Intertextuell könnte man also sagen: Man kann nicht NICHT reagieren. Es braucht einen produktiveren Umgang mit Veränderung. Einen Umgang, der uns diese wahrnehmen, antizipieren und mitgestalten lässt. Einen Umgang, der in ultimativer Instanz Erschöpfungsprävention leistet, weil Wandel mitgedacht wird. Was benötigt wird, ist eine Zukunftskultur.
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Vitalia Safronova, Keynote-Speakerin für wünschenswerte Zukünfte & Innovation.
Zukunftskultur
Eine gut etablierte, lebendige Zukunftskultur führt dazu, dass Organisationen innovativ sind. Sie fördert die Anpassungsfähigkeit in Zeiten ständiger Veränderung. Organisationen mit einer florierenden Zukunftskultur arbeiten automatisch am zukunftsorientierten Upskilling, also an der stetigen Kompetenzerweiterung ihrer Mitarbeitenden. Es ist die Zukunftskultur, die dafür sorgt, dass wir wesentlich seltener von wissenschaftlichen, technologischen oder wirtschaftlichen Neuerungen überrascht werden. Es ist die Zukunftskultur, die jene Meta-Kompetenzen fördert, die uns positiv auf Wandel reagieren lassen. Gewissermaßen steht eine funktionierende Zukunftskultur synonym für individuelle und strategische Resilienz, wenn nicht sogar für Antifragilität.
So weit, so theoretisch. Was aber sind jene Variablen, an denen es zu drehen gilt, um diese lebendige Zukunftskultur in Organisationen zu fördern? Sehen wir uns einige dieser Stellschrauben gemeinsam an.
Neugier managen
Neugier ist der Innovationsturbo von Organisationen. Sie sorgt dafür, dass wir uns weiterbilden, dass wir über unseren Arbeits- und Verantwortungsbereich hinausgehen, dass wir Tiefenwissen in einigen Bereichen erlangen, eine Breite von Phänomenen, Trends und Handlungsstrategien kennenlernen und gelegentlich ungewöhnliche Verbindungen herstellen. Neugier kann der Grund für glückliche Zufälle sein und für ungeahnte Synergien sorgen, sogar über Branchengrenzen hinaus. Doch Neugier muss man fördern.
Das geht zum Beispiel, indem wir vermeintlicher Naivität Raum geben. So könnte man den Start von Projekten oder das Aufsetzen eines Weiterbildungsprogramms mit einem Question Storming, also dem konsequenten Sammeln von Fragen, beginnen statt sofort Antworten zu liefern. Probieren Sie es aus: Legen Sie ein Thema fest, das Sie umtreibt, und sammeln Sie 30 Fragen in drei Minuten. Am besten geht das übrigens im Team, um von anderen Perspektiven zu profitieren.
So lässt sich Zukunftsfähigkeit trainieren
Unser Zukunftsmuskel braucht kontinuierliches Training. Dieses Training ist idealerweise eine Kombination aus großen Prozessen und kleinen Initiativen. Hier kommt ein Mix aus beidem:
Wort der Woche:
Lassen Sie Ihr Team ein eigenes Zukunftslexikon erstellen, indem wöchentlich eine (andere) Person aus dem Team ein zukunftsrelevantes Wort odereinen Satz präsentiert. Dies kann ein Zitat, Schlagwort oder ein Trend sein. Gemeinsam wird das Wort der Woche diskutiert und definiert.
Zukunftslunch:
Holen Sie sich externen Input. Um eine regelmäßige Dosis Zukunftskultur zu garantieren, können Sie Mittagspausen nutzen und externe Zukunftsdenker*innen für den Blick über den Tellerrand einladen. Ganz ohne viel Vorbereitung geht das bei unserem monatlichen Lunch before Innovation.
Kathedrale des Geistes:
Weite (Zeit-)Räume lassen uns innovativer und kreativer werden. Üben Sie sich im 10-Jahres-Denken. Beginnen Sie Innovations-, Produktentwicklungs-, und Organisationsprozesse mit der Frage: Wie sieht unsere Welt (bzw. Organisation) in zehn Jahren aus?
Von Expert*innen lernen:
Variieren Sie, wo Sie Ihr Wissen akquirieren. Wir beispielsweise gestalten Crashkurse zu Futures Literacy und Zukunftsmärkten sowie Future Skill Trainings zum Neugiermanagement. Hier finden Sie Informationen zu Angeboten und Trainingsformaten der Zukunftsinstitut Workshop GmbH
Feingefühl für Wandel entwickeln
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Organisationen, die einen breiten Blick auf die Welt fördern sowie Wissen und Kompetenzen wertschätzen, die auf den ersten Blick nichts mit der eigenen Arbeit zu tun haben, schärfen die Zukunftssensoren ihrer Mitarbeitenden. Alle Arbeiter*innen sind in erster Linie Individuen – mit einem Job, aber auch mit persönlichen Leidenschaften und Lebenserfahrungen.
Personen mit interessanten Hobbies, Auslands- und Migrationserfahrungen, mit vermeintlich ungeraden Lebensläufen oder Angehörige unterrepräsentierter Minderheiten sind meist besonders gut darin, in einer Situation das Andere, das Neue zu erkennen. Zukunftskultur braucht kontinuierliche
Horizonterweiterung. Mit meinen Kolleg*innen gestalte ich regelmäßig Trendexpeditionen, bei denen wir Pionier*innen des Wandels besuchen. Wir blicken dabei hinter die Kulissen jener Organisationen, die den Status Quo hinterfragen. So lernen wir, wo Wirtschaft und Gesellschaft sich zukünftig hin entwickeln könnten.
Offen sein für andere Perspektiven
Wie reagieren Sie darauf, wenn jemand anders denkt als Sie? Ganz ehrlich: Ist das nicht furchtbar anstrengend? Mit jemandem zusammenzuarbeiten, der immer alles anders machen würde als man selbst, kann auslaugen. Oder aber – und sicherlich haben Sie auch das schon erlebt – man wird positiv überrascht und sagt: „Ich habe das eigentlich anders gemeint, aber so ist es noch viel besser.“
Während meiner ersten Berufsjahre hatte ich einen Kollegen, mit dem es ständig so lief. Wir planten ein Projekt, verteilten Aufgaben und merkten bei der nächsten Synchronisation, dass die jeweils andere Person das eigene To-do weiterentwickelt hatte. Nach einigen solchen Momenten freute ich mich schon im Vorhinein auf unsere „Missverständnisse“. Weil ich Vertrauen in die Kompetenzen und die Perspektive meines Kollegen hatte. Eine zukunftsorientierte Kultur schafft Räume, in denen die natürliche Entdeckungsfreude von Arbeitenden gefördert wird. Eine zukunftsorientierte Kultur schafft Räume, in denen neue Perspektiven ausgetauscht und (ungewöhnliche) Ideen respektvoll diskutiert werden.
Anpassungsfähigkeit trainieren
Haben Sie schonmal den Begriff Sensemaking gehört? Sensemaking ist der in unseren Köpfen kontinuierlich stattfindende Prozess, mit dem wir wortwörtlich Sinn produzieren. Wir beobachten die Organisations-, Branchen- oder gesellschaftliche Welt um uns herum und suchen nach Regeln und Zusammenhängen, um Erklärungen für das zu finden, was passiert. Das geschieht individuell, aber auch in Organisationen als Teil von kulturellen, strategischen und operativen Praktiken. In Zeiten, in denen sich wenig verändert, festigen wir die Theorien, die wir haben. Erleben wir aber einen Moment, in dem unsere Erwartung und ein Erlebnis auseinandergehen, müssen wir re-evaluieren, ob unsere Theorien der Sinnproduktion noch zeitgemäß sind. Hier hilft es, die eigene Neugier und das Feingefühl für Wandel bereits trainiert zu haben, um Zukunftsmuster frühzeitig zu erkennen.
Sonst kann es einem schwedischen Telekommunikationsunternehmen, das nach der Maxime „Alles dreht sich ums Telefon“ arbeitet, schon mal passieren, dass es von einem amerikanischen Wettbewerber überholt wird, der längst erkannt hat, dass Nutzer*innen Produkte nach der Maxime „Alles dreht sich ums Erlebnis“ auswählen. Organisationen mit starker Anpassungsfähigkeit ignorieren neue Informationen nicht, sondern nutzen sie, um blinde Flecken aufzudecken sowie neue Fähigkeiten, zur Problemlösung, zu integrieren. Wenn nötig, werden bestehende Meinungen geändert und eine Organisation passt sich an. Das beugt Disruption von außen vor.
In Empathie üben
Gerade wenn wir mit Ungewissheit in Anbetracht von Veränderung zu tun haben, ist es verlockend, sich an Zahlen und Daten zu orientieren. Doch Organisationen, die ihre Zukunftskultur nicht nur auf quantitativen Informationen aufbauen, sondern aktiv über die qualitativen Auswirkungen von Zukunftsentwicklungen nachdenken, erarbeiten sich ein reichhaltigeres Zukunftsbild – und decken so verborgene Risiken sowie Chancen auf.
Verteilen Sie in Diskussionen Rollen, um die Empathie für Stakeholder und Multiperspektivität zu trainieren oder nutzen Sie die unterschiedlichen Brillen, die in Ihrer Organisation bereits vertreten sind, um z.B. die Auswirkungen einer neuen Technologie für verschiedene Akteur*innen in ihrem Unternehmen zu bewerten und Handlungspotenziale aufzudecken. Eine gut funktionierende Zukunftskultur fußt Entscheidungen also nicht nur auf Daten. Arbeitende sind stattdessen in der Lage, durch unterschiedliche Brillen zu blicken und zu erahnen, wie eine Zukunft sich für unterschiedliche Menschen anfühlen wird.
Klarkommen mit Ungewissheit
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Ich weiß nicht. Wann haben Sie diese Worte das letzte Mal gedacht oder gesagt – und sich auch noch gut dabei gefühlt? Wenn eine Situation unklar ist, sorgt das nicht selten für Unbehagen in uns. Eine gesunde Zukunftskultur jedoch akzeptiert Ungewissheit und heißt sie sogar willkommen. Die zuvor genannten Variablen, sofern sie gelebt werden, sorgen dafür, dass wir entspannter mit Ungewissheit umgehen. Dass wir seltener erschöpft aufseufzen, weil etwas unklar ist oder anders kommen könnte als erwartet.
Eine funktionierende Zukunftskultur entwickelt Strategien, um mit Ungewissheit umzugehen. In Zukunftsworkshops mit Führungskräften lasse ich sie, bevor ich mit dem Vorstellen von Tools und Inhalten beginne, jene Strategien teilen, denen sie bereits folgen, wenn sie mal wieder denken: „Ich weiß nicht.“ Das sorgt für Selbstvertrauen und für unkomplizierten Kompetenzaustausch. Im nächsten Schritt geht es dann darum, Ungewissheit als das zu sehen, was sie ist: nicht zwangsweise ein Risiko, sondern ein großartiger Startpunkt für neue Möglichkeiten. Hach!
Dieser Artikel erschien zuerst in „LERNRAUM – Magazin für Training und Personalentwicklung“.
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Über die Autorin
Die Autorin: Vitalia Safronova ist Gegenwartsbeobachterin und Zukunftsdenkerin. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Frage, wie wir einen aufgeklärten Umgang mit Zukunft fördern können, um gegenwärtige Herausforderungen zu wünschenswerten Zukünften zu transformieren. Als zertifizierte Design Thinkerin begeistert Vitalia sich für das kreative Potenzial interdisziplinären Denkens und vereint dies in ihr er Rolle als Zukunftsforscherin und Projektmanagerin für Innovation in der Zukunftsinstitut Workshop GmbH mit der Aufgabe, die Brücke zwischen kulturell-gesellschaftlichem Wandel und wirtschaftlichem Handeln zu schlagen. Ihr Masterstudium in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation absolvierte sie an der U niversität der Künste Berlin und in Stockholm. www.zukunftsinstitut-workshop.de
Bildquelle: IR_Stone / istock