Während es überall im Land akut an Fachkräften mangelt, ist man trotz der dramatischen Lage der Diskussion dazu beinahe überdrüssig. Es scheint, es wurde dazu schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem. Dennoch bleibt unabhängig davon die Tatsache bestehen: Das Fehlen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gefährdet nicht nur das Überleben von Unternehmen, sondern den gesamten Wirtschaftskreislauf und den Wohlstand aller im Land. Es ist höchste Zeit für eine Wende, die, zwar flankiert von der Politik, zuerst von den Unternehmen ausgehen muss.
Bedeutung des Fachkräftemangels für die deutsche Wirtschaft
Im Wesentlichen löst der Fachkräftemangel vor allem zwei große Gefahren aus: Umsatzverluste bei den Unternehmen und Probleme für den Wirtschaftsstandort Deutschland. 2023 blieben laut der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) 1,8 Millionen Stellen unbesetzt. Damit gingen mehr als 90 Milliarden Euro an Wertschöpfung verloren – das sind bereits mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Kleinen, auf Unternehmensebene, bedeutet dies: mehr Arbeit für die restliche Belegschaft oder ersatzweise Aufträge, die abgelehnt werden müssen, längere Lieferzeiten, Lieferausfälle, weniger Umsatz. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Der Erfolgsfaktor Mensch verliert seine Energie. Überlastet, abgewandert oder gar nicht erst richtig ausgebildet (etwa in der Digitalisierung) leisten auch die vorhandenen Fachkräfte nicht mehr das, was sie sollten, weil sie trotz fundierter Vorbildung nicht schnell genug fit für neue Strategien und Technologien werden.
Ursachen des Fachkräftemangels
Die Ursachen für den Fachkräftemangel sind vielfältig und durchaus komplex. Im Wesentlichen kann man vier Top-Ursachen diagnostizieren:
- Demografie
- Digitalisierung und damit einhergehende Änderungen der Anforderungen
- New Work
- Big Quit
Eine der Hauptursachen der grassierenden Krise am Arbeitsmarkt liegt in der Demografie. Die Babyboomer gehen und sie hinterlassen eine Lücke, die die jungen Generationen schwer bis gar nicht füllen können – zum einen, weil sie nicht in der Masse vorhanden sind, zum anderen, weil es ihnen noch an Erfahrung fehlt. Hinzu kommt, dass die angehenden Ruheständler in vielen Unternehmen ihr Fachwissen mitnehmen. Quasi ein doppelter Renteneintritt pro Fachkraft, da ihr Wissen nicht strategisch, oder im schlimmsten Fall überhaupt nicht weitergegeben wird.
Ein weiterer Punkt ist die sich ändernde Ausgangslage insbesondere in Jobs, die künftig noch Fachkräfte brauchen und die nicht von KI erledigt werden können. Hier verschiebt sich das Spielfeld, denn es entstehen neue Verantwortungsbereiche, gerade im Kontext der Digitalisierung, die ein komplexes Fachwissen voraussetzen. Menschen mit den entsprechenden Fertigkeiten sind heutzutage schon schwer zu finden – und anscheinend noch schwieriger fort- oder auszubilden. Sei es wegen fehlender Motivation der Mitarbeiter oder Versäumnissen auf Unternehmensseite, wenn es beispielsweise darum geht, die entsprechenden Ressourcen freizumachen.
Die mittlerweile viel zitierte Great Resignation (auch Big Quit genannt) und New Work machen das Quartett der Ursachen komplett. Speziell beim Punkt New Work muss man genauer hinschauen, weil diese Arbeitsphilosophie unzweifelhaft auch viele gute, kreative und lohnende Ansätze mit sich bringt. Das funktioniert allerdings nicht, wenn die dahinterliegende Intention ist, nicht neu, sondern einfach nur weniger zu arbeiten. Auf der anderen Seite steht der Big Quit, der auch durch die Pandemie befeuert, immer noch umgeht. Viele Menschen haben während der Corona-Krise ihr Arbeitsleben hinterfragt, Stunden reduziert, sind in die Frührente gegangen oder haben ihre Prioritäten umgeschichtet.
Branchen- und regional bezogene Unterschiede
Zu Recht fragen sich manche Unternehmen, ob diese Krise sie überhaupt betrifft und, ja, es gibt Branchen und Regionen, in denen der Zugzwang deutlicher spürbar ist als in anderen. In Baden-Württemberg rennt man den Fachkräften schneller und atemloser hinterher als in Berlin. Thüringen und Rheinland-Pfalz setzen langsam zum Sprint auf die begehrten Fachkräfte in Engpassberufen an.
Einen Marketingmanager findet man leichter als einen Pflegeleiter, eine Immobilienmaklerin mit weniger Aufwand als eine Maschinenbauerin. Neben dem Vertrieb sind auch die MINT-Berufe ohne Frage besonders betroffen. Allgemein lässt sich trotzdem sagen, dass die Krise so gut wie überall angekommen ist: vom Restaurant, das immer noch nicht wieder zur vollen Kapazität zurückgekehrt ist, weil sich das Personal anderen Branchen zugewandt hat, bis zum Management, aus dem die Babyboomer sich verabschieden, in dem die Gen X nicht den gebührenden Respekt erhält und wo die Gen Y lieber mit dem Laptop am Strand Work und Life ausbalancieren würde.
Maßnahmen zur Fachkräftesicherung
So fragt sich immer drängender, was als Arbeitgeber, als Unternehmerin oder als Personalverantwortlicher zu tun ist. Hier einige Ansätze dazu:
Halten Sie die Kräfte, die Sie bereits haben
Dieses Prinzip kennen Sie vermutlich, wenn Sie selbst Unternehmerin sind oder in Ihrem Arbeitsleben mit Vertriebsthemen in Kontakt gekommen sind. Neue Kunden zu finden, ist immer aufwendiger, als Bestandskunden zu halten. Dasselbe gilt auch für Mitarbeiter. Viele Unternehmen unterschätzen nicht nur den Aufwand des Recruitings, sondern auch die Zeit, die es dauert, bis eine neue Stelle tatsächlich besetzt ist. Laut der Agentur für Arbeit blieben ausgeschriebene Stellen im Jahr 2021 durchschnittlich 119 Tage unbesetzt – ein Drittel des Jahres. Und auch wenn die Position besetzt ist, benötigen selbst die Besten unter den besten Kräften eine gewisse Einarbeitungszeit, um Workflows, Zuständigkeiten und Interna zu verinnerlichen. Bis zur vollen Produktivität dauert es also noch einmal.
Ihr erster Schritt sollte demnach immer sein, in das Potenzial zu investieren, das bereits in Ihrem Unternehmen sitzt, schraubt, denkt und macht. Wer Fortbildungen scheut, weil er glaubt, dass die Mitarbeiter dort schnell abgeworben werden, schneidet sich ins eigene Fleisch. Ebenso diejenigen, die am gerechtfertigten Gehalt sparen oder die, für die Unternehmenswerte Lippenbekenntnisse bleiben.
Geld ist nicht alles, aber viel
Umfragen zufolge, denken Mitarbeitende erst ab einer potenziellen Gehaltserhöhung von 20 Prozent ernsthaft über einen Jobwechsel nach. Das klingt erst einmal beruhigend. Geld ist demnach nicht alles – aber es ist auch nicht nichts. Ein wettbewerbsfähiges Gehalt signalisiert Wertschätzung und Anerkennung für die Fähigkeiten und Leistungen der Mitarbeiter. Ebenso kann es bei der Gewinnung neuer Kräfte helfen, insbesondere aus Ländern, in denen das Gehaltsniveau unter dem deutschen liegt. Stellen Sie also sicher, dass Ihre Mitarbeiter angemessen vergütet sind, aber hören Sie an der Stelle nicht auf.
Der zweite Punkt geht Hand in Hand mit dem ersten. Eine Mitarbeiterin, die überlastet ist oder sich übersehen fühlt, hört genauso schnell auf, wie eine Kollegin, die sich unterbezahlt wähnt. Vielleicht sogar schneller. Eine offene Kommunikation auf allen Ebenen sowie eine transparente und vertrauensvolle Führungskultur sind entscheidend. Mitarbeiter möchten sich gehört und in Entscheidungsprozesse einbezogen fühlen. Ein respektvoller Umgang miteinander ist dabei ebenso wichtig.
Das Gift kann auch das Gegengift sein
Schlussendlich beschleunigt die Digitalisierung die Krise nicht nur, sondern kann auch zu deren Lösung beitragen. Immer mehr Arbeit für immer weniger Menschen, dadurch steigende Belastung, Stress, Ausfall, sei es durch Krankheit oder selbst gewählten Entzug der Arbeitskraft. „Lying Flat“ ist ein momentan noch vorwiegend chinesisches Phänomen, das auch Europa blühen könnte. Es bedeutet, als dass sich die Menschen den Systemen entziehen, die sie überlasten. Stattdessen wenden sie sich dem monetären Minimalismus zu – und zwingen die Unternehmen ebenfalls dazu.
Bevor es auch hierzulande so weit kommt, können Künstliche Intelligenzen und Maschinen Abhilfe leisten. Wiederkehrende Fleißarbeiten, aber auch komplexere strategische Aufgaben könnten an die digitale Workforce ausgegliedert werden. Dafür müssen Unternehmen aber jetzt investieren, die Strukturen schaffen und nicht zuletzt – Sie ahnen es – die Mitarbeiter fortbilden.
Legen Sie Menschlichkeit in Ihr Recruiting
Und wenn Sie zusätzlich zu Ihren vorhandenen Mitarbeitern neue suchen (müssen)? Hier ist der umgekehrte Weg der richtige. Weg von maschinellen 08/15-Angeboten, hin zur Menschlichkeit. Gleichermaßen gilt: Es geht nicht ums Geld, nicht einmal vorwiegend um Ihr Unternehmen. Das ist für viele Führungskräfte immer noch ein Schock, aber wahr. In der heutigen Zeit, in der sich Arbeitnehmer in vielen Branchen den Job frei aussuchen können, geht es nicht mehr darum, einen prestigeträchtigen Namen in die Vita zu schreiben oder bürokratisch genau aufgeschlüsselt zu bekommen, worin der ausgeschriebene Job besteht.
Es geht darum, ob sich die Menschen mit dem Beruf identifizieren können. Nur so finden Sie Fachkräfte, die bleiben – trotz aller anderen Verlockungen im Arbeitsmarkt. Und das beginnt bei der guten alten Stellenausschreibung. Stellen Sie den Bewerber in den Mittelpunkt, nicht den Job. Zeigen Sie, was die Menschen davon haben, bei Ihnen zu arbeiten.
Werden Sie zur Machkraft – und finden Sie andere Machkräfte
Schlussendlich kommt es selbstverständlich auch auf Sie als Führungskraft an. Denn wir wissen: Menschen kommen wegen Jobs und gehen wegen ihrer Vorgesetzten. Unsere Autorin Jessica Lackner vertritt die These:
Es mangelt nicht an Fachkräften, sondern an Machkräften.
An Menschen, die andere Menschen in ihre Kraft bringen. Das können sowohl Mitarbeitende selbst als auch Führungskräfte sein. Laut Lackner benötigen wir sogar beide, damit Unternehmen in Zukunft erfolgreich sind: die Leader, die das Team in eine bestimmte Richtung führen. Und die Machkräfte, die andere Menschen entfalten, die handfest umsetzen, statt alles zu zerdenken. Damit vereint sie perfekt die ersten drei Punkte, denn Machkräfte entfalten sowohl das Potenzial der bestehenden Mitarbeiterinnen, ziehen aber gleichzeitig neue an.
Mehr über Machkräfte erfahren Sie in Fachkräftemangel oder Machkräftemangel von Jessica Lackner, über das Sie sich hier informieren können.
Fazit
Die Ursachen für den Fachkräftemangel sind vielschichtig und reichen von demografischen Veränderungen über Bildungsdefizite bis hin zu strukturellen Problemen auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere der technologische Wandel und die Digitalisierung haben die Anforderungen an die Arbeitskräfte verändert und neue Kompetenzen erforderlich gemacht. Genau das kann aber auch bei der Bewältigung der Krise helfen: Digitalisierung, wo sie die menschliche Arbeit sinnvoll unterstützt und Menschlichkeit an den Stellen, an denen Sie Fachkräfte erreichen und halten wollen. Sei es beim Gehalt, in der Kommunikation, der Kultur oder der Stellenausschreibung: Rücken Sie die Menschlichkeit in den Fokus, werden Sie zur Machkraft, und überlassen Sie nur den Rest der KI.
Bildquelle: AndreyPopov / istockphoto.com