Von Susanne Nickel
Krisen gab es und wird es immer geben. Oft sind sie schleichend und manchmal prallen sie ad hoc auf uns ein, wie das Coronavirus. In jeder Krise steckt eine eigene Geschichte und Menschen durchlaufen sie mit unterschiedlichem Ausmaß und Auswirkungen. Dennoch gibt es ein verbindendes Element, eine Struktur, die jeder Krise immanent ist.
Die Krisenkurve
Einerseits suchen Unternehmen Wirtschaftlichkeit, um zu überleben. Knall auf Fall ins kalte Wasser geworfen, gilt es auszuloten, wie viel Luft die Firma noch hat, um sicher das andere Ufer zu erreichen. Dort locken Aufbruch und neue Erfolge, verbunden mit Wachstum und Innovation. Doch wie Alfred Herrhausen schon weise sagte: Ohne Wirtschaftlichkeit geht es nicht und ohne Menschlichkeit ertragen wir es nicht. Nicht nur das Drehbuch der Wirtschaftlichkeit folgt bestimmten Phasen – auch die menschliche Ebene will Beachtung finden. Nur als Ganzes betrachtet schaffen es Unternehmen in die gewünschte Neuausrichtung und schließlich zum Erfolg. Hier kommt die Krisenkurve ins Spiel: Egal, ob Krise oder Veränderung, immer gelten ihre vier Phasen.
Starke Führung unterstützt Menschen auf dem Weg durch die Krisenkurve, damit sie wieder in ihre Motivation und Handlungsfähigkeit kommen.
Dieses Modell der Reaktionen bei Krisen im Spektrum von einerseits Kompetenz und andererseits Wirtschaftlichkeit und Zeit gibt Geschäftsführern, Führungskräften und Mitarbeitern Orientierung, mit welchen Verhaltensweisen und Konsequenzen zu rechnen ist.
Phase 1 der Krisenkurve: Verneinung
Zuerst macht sich der Schock im Unternehmen und der Belegschaft breit. Krisen wie auch andere größere und kleinere Veränderungen starten immer mit der Konfrontation mit einer neuen Situation, die große Unsicherheit und starke Emotionen auslöst. Das kann eine Einwirkung von außen sein, wie die Coronakrise. Oder ein neuer Marktteilnehmer etabliert sich in dem Markt, in dem man bisher ohne großen Wettbewerb wirtschaftlich gut erfolgreich sein konnte. Der Unternehmer und die Mitarbeiter werden mit Veränderungen konfrontiert, mit denen sie nicht gerechnet haben. Dazu zählen etwa Preiskämpfe mit neuen Wettbewerbern, die Auflösung einer Abteilung oder die Veränderung eines Produkts. Auch die Verkündung eines Abbauprozesses, durch das Topmanagement initiiert, führt zunächst zu einem Schockzustand. Die Betroffenen fühlen sich wie gelähmt. Das einwirkende Ereignis wird schlichtweg abgelehnt. Oft werden Anstrengungen im alten Muster verdoppelt, führen allerdings zu keinem brauchbaren Ergebnis – so wie der Lift nicht schneller kommt, wenn man den Knopf immer und immer wieder drückt.
Bald ist der höchste Punkt der Verneinung erreicht und alles wird zum Problem.
Die Notwendigkeit der eigenen Veränderung wird nicht akzeptiert. Sowohl die Geschäftsleitung als auch die Mitarbeiter reden sich ein, dass der alte Zustand bald wiederhergestellt sein wird. Neben den Verteidigern des Altbewährten finden sich auch Befürworter der Veränderung – und damit entstehen schnell Fronten. Diese Phase wird von den Betroffenen zum Teil ungesteuert durchlebt und sämtliche Emotionen werden herausgelassen. Wut mobilisiert Kräfte, Rebellion folgt, und es wird versucht, Veränderungen durch Verhandeln abzuwenden. Typische Aussagen in dieser Phase sind: „Das glaube ich nicht. Wir haben es doch bisher immer richtig gemacht.“ Oder: „So ein Quatsch, das zieht an uns vorbei.“ Solche Reaktionen zeigen die Angst, gewohnte Strukturen und eine vertraute Unternehmenskultur zu verlassen.
Auch wirtschaftlich wird die mögliche Krise zuerst noch verneint.
Zwar verliert man schon die ersten Kundenaufträge und Umsätze, doch tut das vielleicht noch nicht besonders weh. „Die Kunden kommen schon bald wieder“, heißt es dann, oder „Es gibt immer mal wieder schlechte Tage“. Auf der menschlich-individuellen Ebene zeigen sich bei den Betroffenen, also der Geschäftsführung und den Mitarbeitern, Verunsicherung, Verdrängung und Stress.
Als die Pandemie von China nach Italien gelangt war, haben wir noch gedacht, uns in Deutschland träfe das nicht oder zumindest nicht so. Wir waren uns sicher, dass unser Gesundheitssystem besser ausgestattet ist. Gedanklich waren wir von einem Stillstand unserer Wirtschaft weit entfernt. Dann kam der Lockdown, das Unabwendbare trat ein und wir sahen langsam ein: Auch unsere Unternehmen sind betroffen, Führungskräfte, Mitarbeiter. Stillstand, Kurzarbeit. Ausgangssperre. Das Geschehen nimmt in dieser Phase also seinen Lauf. Es geht bergab im Strudel der Emotionen, des Widerstands und der Angst, hinein in das Tal der Tränen. Doch irgendwann kommt die Einsicht.
Phase 2 der Krisenkurve: Einsicht
In der zweiten Phase nimmt das Realitätsbewusstsein zu. Die neue Situation und deren Konsequenzen werden schrittweise akzeptiert. Unternehmer und Mitarbeiter erkennen, dass ihre Ablehnung gegenüber der Krise nicht den gewünschten Erfolg bringt und dass der Wandel unvermeidbar ist. Natürlich gibt es weiterhin einige, die am Alten festhalten wollen, aber die Zahl derjenigen, die die Veränderung annehmen, auch wenn sie schmerzlich ist, steigt. Zunächst ist die Einsicht rational da, gefolgt von der Haltung, verändern sollten sich doch bitte die anderen. Wenn überhaupt, dann werden vorerst nur oberflächliche Veränderungen und kurzfristige Lösungen gesucht. Erst nach der rationalen Akzeptanz folgt die emotionale. Hier sinkt die Einschätzung der eigenen Kompetenz auf den Tiefpunkt. Schnell ist das Repertoire des Handelns erschöpft. Typische Sätze hier sind: „Jetzt habe ich doch wirklich alles versucht, ich weiß nicht weiter.“ Oder: „Ich schaffe das nicht.“ An diesem tiefsten Punkt der Kurve kommt es zur entscheidenden Wendung. Die Mitarbeiter beginnen die Veränderung zu akzeptieren und nicht nur kognitiv zu verstehen. Sie sind bereit, gewohnte Verhaltensweisen aufzugeben, sodass eine Neuausrichtung beginnen kann.
Umsatz- und Gewinneinbrüche
Kaufmännisch charakterisiert sich diese zweite Phase mittels Umsatz- und Gewinneinbrüchen und es kommt in der Folge gar zu Verlusten. Irgendwann können selbst die offenen Rechnungen gegenüber den Lieferanten und Mitarbeitern nicht mehr rechtzeitig oder in voller Höhe bezahlt werden, die Ertrags- und Liquiditätslage verschlechtert sich.
In Phase 1 und 2 der Kurve geht es also um die Stabilisierung, menschlich und wirtschaftlich, damit sich nun in den Phasen 3 und 4 der Raum für die Erneuerung öffnet. In der Mitarbeiterführung ist es wichtig, dass Chefs diese Phasen und damit verbundenen Emotionen kennen, um handlungsfähig zu sein und das Unternehmen erfolgreich in die Zukunft zu führen.
Phase 3 der Krisenkurve: Aufbruch
Phase 3 ist die Phase des Annehmens. Die Geschäftsleitung und die Mitarbeiter sagen jetzt „Ja“ zur Krise und den damit verbundenen Veränderungen. Sie fangen an, mit der Situation konstruktiv umzugehen und entwickeln Neugier auf das Neue und die damit verbundenen Handlungen. Anspannung und Angst sind gewichen, Trauer so weit bewältigt, dass erste Ideen entwickelt werden können und die Betroffenen wieder offen für Vorschläge sind. Sie beginnen, neue Fähigkeiten auszuprobieren. Der Prozess des bewussten Lernens von neuen Verhaltensweisen schreitet voran. Durch Erfolge und Misserfolge lernen Unternehmer und Mitarbeiter, welche Verhaltensweisen angebracht sind.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
Eines der wichtigsten Prinzipien dieser Phase ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Dabei gibt es nur zwei Strategien, die einer Firma langfristig das Überleben sichern: Entweder ist ein Unternehmen Kostenführer oder es ist Nutzenführer. Die Wahl heißt also „Aldi oder Red Bull“. Man ist entweder so günstig in seinen Leistungsprozessen und Strukturen, dass man selbst bei niedrigen Preisen gute Renditen erwirtschaftet. Oder man bietet als Nutzenführer seinen Kunden qualitative und/oder emotionale Mehrwerte, für die diese freiwillig einen Preisaufschlag akzeptieren. Wer jedoch weder reale Kosten- noch Nutzenvorteile liefert, befindet sich im Sumpf der Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit und kann sich nur noch durch preisaggressive Verkaufsstrategien vermarkten. Dies gefährdet langfristig die unternehmerische Existenz.
Intensive Fehlererlaubnis
Auf der Suche nach einer Kosten- oder Nutzenführerschaft braucht es in der Führung eine intensive Fehlererlaubnis. Das Ausprobieren muss ausdrücklich erwünscht sein, um den Lernmodus zu begünstigen. Erst in dieser Phase sind unterstützende Maßnahmen wie Trainings, Workshops oder auch Coachings hilfreich. Geduld und Ausdauer sind wichtig, neues Lernen braucht seine Zeit. Es tritt die Erkenntnis ein, dass die Veränderung auch etwas Gutes hat.
Mit dem Aufbruch verlassen wir endgültig die Tiefen des Tals der Tränen, wobei sich die Kurve schon ein wenig nach oben bewegt, da wir das System und die Menschen darin stabilisieren und sie loslassen können. Diesen Schub nutzen wir, um in den Aufbruch zu wechseln. Er ist das Drehmoment in der Krisenkurve.
Phase 4 der Krisenkurve: Erfolg
Das Handlungsspektrum der Unternehmer und Mitarbeiter hat sich inzwischen erweitert. Erfolge stellen sich ein und damit verbunden die Erkenntnis, wann das neue Verhalten angemessen ist und wo die alten Handlungsmuster noch Platz haben. Das neue Verhalten wird von den Betroffenen vollständig in den Alltag integriert und als selbstverständlich betrachtet. Die wahrgenommene eigene Kompetenz und Selbstwirksamkeit der Mitarbeiter steigen über das Niveau vor der Krise an. Die Bedeutung der Krise und der damit verbundenen Veränderungen für das Unternehmen und für die persönliche Entwicklung wird deutlich, und die neue Energie beginnt langsam Früchte zu tragen. Aus dieser Energie entwickeln sich Produktivitätssteigerung und Zufriedenheit.
Aber Achtung: Der Erfolg kann auch negative Konsequenzen haben.
Ganz nach dem Motto „Erfolg killt Innovation“ reden wir hier von der Arroganz des Erfolgs. Denn wie in Phase 1, der Verneinung, verkennen manche erfolgreiche Unternehmen, dass sich die Märkte wieder ändern. Wettbewerber kopieren das erfolgreiche Geschäftsmodell des eigenen Unternehmens, Kunden ändern ihre Bedürfnisse und es entwickeln sich neue Technologien. Der bisherige Nutzen verliert an Attraktivität, Kunden gehen verloren, Wettbewerber überholen die eigene Firma, der Auftragseingang bzw. Umsatz geht zurück und die Werte für die beiden Schlüsselfaktoren Rentabilität und Liquidität rutschen in gefährliche Bereiche.
Das Leben ist ein Auf und Ab und das gilt auch für Unternehmen als lebendige Organisationen. Wenn wir einen hohen Reifegrad erlangt haben, können wir es schaffen, flexibel auf Krisen zu reagieren und besser und vielleicht auch schneller mit ihnen umzugehen.
Bei genauer Betrachtung ist die Krisenkurve daher ein Kreislauf.
Nur wer sich kontinuierlich mit dem sich immer wieder ändernden Markt, dem Kundennutzen und seinen Finanzen beschäftigt, kann nachhaltig erfolgreich sein. Und nur dieser Erfolg ermöglicht es, dass Arbeitsplätze gesichert sind und die Gesellschafter gerne ihr Kapital im Unternehmen lassen. Wer es schafft, dass sein Unternehmen nicht nur in Bezug auf Zahlen, Daten und Fakten, sondern auch innerlich in Unternehmens-, Team- und Selbstführung wächst, wird diesen Kreislauf kompetent meistern. Dazu gehören Flexibilität, die Haltung einer lernenden Organisation und das Abholen bzw. Mitnehmen der Mitarbeiter. Wenn wir so ausgerichtet sind, dann kann die nächste Krise kommen.
Über den Autor
Susanne Nickel ist DIE Expertin für Change 4.0 und innovative Leadership und wird von ihren Kunden die „Zukunftsmacherin“ genannt. Sie gehört zu den Top100-Speakern im deutschsprachigen Raum und brennt mit Leib und Seele für erfolgreiche und gelungene Veränderungen. Susanne Nickel lebt, was sie lehrt. Sie ist Rechtsanwältin, Wirtschaftsmediatorin, Management-Beraterin und Executive Coach. Seit vielen Jahren überzeugt sie als Beraterin, Trainerin und Coach rund um ihre Leidenschaftsthemen Change und Führung und hat mittlerweile tausende Teilnehmer begeistert und bewegt.
Die Umsetzungsspezialistin war bei gefragten Beratungshäusern wie Kienbaum und Haufe als Managerin tätig. Ihre Karriere startete sie als Pressesprecherin und bekannte TV-Expertin. Dabei war sie geschätzt dafür, komplexe Sachverhalte einfach zu erklären. Als Rednerin gewann sie schon mehrfach Preise für ihre mitreißenden Keynotes. Susanne Nickel ist in fast allen DAX 30 Unternehmen ein und aus gegangen. Vom Change im Mindset bis zur erfolgreichen Implementierung begleitet sie Unternehmen auf dem Weg zu mehr Agilität im Dschungel der digitalen Transformation.
Die mehrfache Buchautorin hat in jungen Jahren Tanz an der renommierten Folkwang-Hochschule bei Pina Bausch studiert und verbindet das, was Unternehmen und auch Menschen beim Aufbruch brauchen: Die richtige Haltung und Mischung aus Struktur und Kreativität, Ratio und Emotio.