von Gitte Härter
Vor vielen Jahren hat mich eine unbekannte Frau angerufen und wild beschimpft. Ich war völlig verdattert: „WTF? Wer ist das? Was fällt der ein?!“ Die Anruferin warf mir mein Buch "Nerv nicht! Über den Umgang mit Nervensägen, Rechthabern, Langweilern & Co." vor. Der Schimpftirade konnte ich bruchstückhaft entnehmen, dass ihre Kollegen ihr mein Buch demonstrativ auf den Tisch gelegt hatten.
In diesen vielleicht zwei Minuten war mein eigener Zorn, dass ich aus dem Blauen raus so harsch angemacht wurde, größer als mein Verstehen. Ich erinnere mich, dass ich bemüht sachlich gesagt habe, wenn sie so mit mir redet, lege ich auf. Weil das Schimpfen weiterging, habe ich genau das getan.
Sobald ich aufgelegt hatte, begriff ich, was da passiert war. Wie gemein die Kollegen waren. Wie schmerzhaft das für die Anruferin sein musste. Und dass sie, wenn sie sich bei mir meldet, in Wirklichkeit jemanden an ihrer Seite brauchte.
Das ist einer der Momente in meinem Leben, den ich sehr bereue. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie hier mitlesen, ist nicht groß. Falls doch: Es tut mir sehr leid, dass ich in diesem Augenblick zu sehr auf mich fixiert war. Ich hätte Sie gerne sofort zurückgerufen, doch Ihre Nummer war nicht hinterlegt. Ich denke oft an Sie!
Nicht immer ist es böse Absicht
Einmal habe ich den Chef einer kleinen Firma gecoacht. Sie waren dort stark am Wachsen. Durch die verschiedenen Persönlichkeiten und den hohen Stress gabs Probleme im Miteinander. Vor allem eine langjährige Mitarbeiterin verbreitete negative Stimmung.
Man habe, erzählte mir der Chef stolz, vor einigen Wochen eine lustige Aktion eingeführt, die das Problem thematisiert: Wöchentlich küre man „Den Jammerlappen“. Dazu haben sie einen grauen Putzlappen gekauft und das Team bestimmt jede Woche, wer ihn sich verdient hat. Der Jammerlappen bleibt dann die ganze Woche über am jeweiligen Schreibtisch hängen.
Bisher hing der Putzlappen nonstop bei dieser einen Kollegin.
Ich war fassungslos, doch ich merkte: Dahinter steckte keinerlei böse Absicht. Es war als Necken gemeint. Der Versuch, nonkonfrontativ auf etwas aufmerksam zu machen.
Genau das ist das Problem.
Die Feigheit, etwas nicht anzusprechen, hat viel mit einem selbst zu tun. Oft steckt schlicht Unsicherheit dahinter: Bloß nicht das Falsche zu tun. Man will gerade nicht verletzen, jemanden nicht bloßstellen, aber trotzdem auf etwas aufmerksam machen.
Das zielt natürlich nicht nur auf die sanfteren Gemüter ab. Vielleicht gehören Sie – wie ich – eher zur explosiven Sorte, die befürchtet, eine Sache zu verschlimmern: Wenn wir in bestimmten Momenten den Mund aufmachen würden, käme spontan ganz sicher nichts Diplomatisch-Konstruktives dabei raus. Auch dahinter steckt das Ziel, jetzt nichts Falsches zu tun. Lieber nicht, sonst ...
Kopfweh und andere Ausreden
Vielleicht ist Ihnen beim Lesen eben die Luft weggeblieben, weil Sie so etwas selbst schon erlebt haben oder sich hineinversetzen können, wie schmerzhaft das sein muss. Noch dazu, wenn es in einem Kreis von Menschen geschieht, den man täglich sieht, etwa im Beruf.
Das „durch die Blume“ treibt Blüten, die die meisten von uns aus erster Hand kennen, etwa in Form von Ausflüchten:
- Wer hat noch nie in seinem Leben irgendeine Krankheit vorgeschützt.
- Den Partner, wegen dem etwas nicht geht.
- Den Termin, den man leider wahrnehmen muss.
- Oder, oder, oder.
Mir fällt eine frühere Kundin ein, deren Schwester ein Kind hatte. Sie liebte es, Zeit mit ihrer Nichte zu verbringen, doch irgendwie hatte sich das dazu entwickelt, dass ihre Schwester von ihr verlangte, das jeden Samstag für mehrere Stunden zu tun. Meine Kundin war in einem Dilemma. Natürlich war sie gerne mit der Kleinen zusammen, aber doch nicht jedes Wochenende, und dann so lange! Mittlerweile spitzte sich das Problem zu: Die Ausreden, warum es „diesen Samstag leider nicht geht“, gingen aus. Diverse Unpässlichkeiten, Überstunden für die Arbeit, anderen beim Umzug helfen, alles schon dagewesen. Letzte Woche habe sie erzählt, dass sie eine IKEA-Lieferung erwartet und Möbel aufbauen müsse. Darum hat sie sich das ganze Wochenende nicht rausgetraut, aus Angst, der Schwester zufällig zu begegnen.
Eins steht fest: Allein ist sie damit nicht.
Und dann gibt es noch die verschärfte Blume: das Schweigen.
Ghosting – „Der wird es schon kapieren!“
Meistens hört man vom Ghosting, wenn es um Beziehungen oder ums Internet geht: dass da jemand von heute auf morgen verschwindet, auf nichts mehr reagiert, einen komplett ins Leere laufen lässt.
Doch in der Familie und im Freundeskreis gibt es das leider auch nicht so selten. Ein Klassiker ist die Enttäuschung, wenn man merkt, dass ein Kontakt allzu einseitig verläuft. „Dauernd muss ich mich melden! Dann rühre ich mich halt nicht mehr. Dann wird er/sie schon merken … [was er falsch gemacht hat/versäumt/an mir hatte].“
Damit verwandt ist das „silent treatment“. Das demonstrative Nicht-mehr-miteinander-Reden. Mit Anfang 20 habe ich das selbst noch gemacht: Hat mein Gegenüber in meinen Augen etwas falsch gemacht, habe ich ihn ausgesperrt. Meine Mimik war beleidigt, vorwurfsvoll. Wann immer ich gefragt wurde, was denn los sei, kam von mir ein einsilbiges „Nichts“. Innerlich war ich noch empörter als vorher: „Er muss doch wissen, was er falsch gemacht hat“/„Sie muss doch merken, dass mich das verletzt hat!“ Das hat meine innere Front und die Mauer des Vorwurfs erst recht verstärkt. Und zwar so, dass ich nicht mehr dahinter hervorkam. Ich war in meinem Schweigen gefangen, sogar wenn ich an dem Punkt war, darüber reden zu wollen.
Hinter den Ausflüchten steckt Hilflosigkeit
Als unbeteiligte Person hat man den großen Vorteil, dass man all diese Situationen objektiv betrachten kann: Man tut sich leichter, die Perspektive aller Beteiligten einnehmen und dadurch gelingt es, nachzuvollziehen, was hier los ist.
Man merkt, dass das „Durch die Blume“ eine Hilflosigkeit überspielt. Manches Mal aus Ignoranz, oft jedoch aus dem Wunsch heraus, dass sich die Dinge klären, ohne dass wir sie offen ansprechen müssen. In den seltensten Fällen geschieht das. Selbst wenn, macht es uns reaktiv. Mal ganz abgesehen davon, ist das „Was du nicht willst, dass man dir tu“ eh ein guter Grundsatz, sich klarzumachen, wenn man sich da gerade eher aus etwas rausflüchtet.
Ich glaube, fast jeder Mensch wünscht sich, dass andere einem offen sagen, wenn was ist.
Der wichtigste Schritt ist, etwas überhaupt zu merken. Gar nicht mal von sich zu verlangen, sofort etwas anders zu machen. Jemandem etwas offen zu sagen, überfordert manchmal. Das ist menschlich. Je nachdem, worum – und um wen – es geht, kommt sogar noch ein Stapel unguter Gefühle, Erfahrungen, Vorbehalte obendrauf.
Es reicht völlig, sich bewusst zu werden, was hier genau los ist. Es für sich zu registrieren. Praktisch in einem Selbstgespräch konkretisieren zu können: „Dies und das stört mich/tut mir weh/bringt mich auf die Palme/hat mich so enttäuscht/… Ich würde es eigentlich gerne ansprechen, aber …“
Einfach mal für sich die Karten auf den Tisch. Auch wenn wir uns dennoch dafür entscheiden, es zunächst nicht anzusprechen, bringt uns das Bemerken und Auseinanderdröseln weiter:
- Es sortiert.
- Es geht den Gefühlen auf den Grund.
- Es ermöglicht, den Finger konkret draufzulegen, was sich wie auswirkt und was (momentan noch) zwischen uns und einem offenen Gespräch steht.
Und es verkleinert die Kluft zum Handeln.
Über den Autor
Gitte Härter (geb. 1969) ist nach fünf Jahrzehnten aus Bayern ausgewandert und lebt jetzt in Offenbach. Sie hat über zwei Dutzend Ratgeber rund um Business, Selbstmanagement und Kommunikation geschrieben, vier davon im GABAL-Verlag. Beruflich arbeitet sie schwerpunktmäßig mit EinzelunternehmerInnen. Im Netz findet man sie in allen möglichen Ecken.