von Peter Holzer
Ständig sehen Sie Menschen, die stärker, hübscher, kommunikativer, talentierter oder besser sind als Sie. Wenn Sie merken, dass die Natur sich nicht nur um Sie, sondern auch um andere Menschen kümmert, entsteht Neid. Der ist weder selten noch etwas Besonderes. Neid ist einfach menschlich. Sie sind neidisch auf eine Person, wenn diese etwas kann oder besitzt, das Ihnen wichtig ist – und Ihnen genau das fehlt.
Die Magie der freien Rede
»Wahnsinn, wie der Typ das hinkriegt«,
schießt es mir durch den Kopf. Es ist Abend. Mit meiner Familie sitze ich im Festsaal des Kurhauses in Wiesbaden. Diplomfeier meines Uni-Jahrgangs. Wochenlang hatte ich geackert, um die Absolventenrede für die akademische Feier meines Abschlussjahrgangs zu halten. Zu meinem Vater flüstere ich: »Mit meinem Manuskript stand ich heute am Rednerpult und habe die Rede einigermaßen flüssig abgelesen. Aber im Vergleich zu dem Typen da vorn war das ein Witz!« Der Redner ist ein Mönch. Er steht nicht hinter dem Pult, sondern daneben. Er hat kein Redemanuskript, sondern redet frei. »Entspann dich«, flüstert mein Vater. »Du brauchst nicht neidisch zu sein. Deine Rede war super!«
Ich war neidisch
Aber ich war neidisch. Zum Glück. Denn ohne diesen Neid wäre ich in meinem Berufsleben vermutlich völlig woanders gelandet. Doch ich bekam die Magie der freien Rede nicht mehr aus dem Kopf. Sie verführte mich, lockte mich an. Und beeinflusste maßgeblich meinen Lebensweg. Denn eines Tages tauchte die Gelegenheit auf, mit einem Urgestein der Trainerszene große Seminare mit 200 und mehr Teilnehmern zu geben. Auch wenn wir zwischenmenschlich nicht kompatibel waren, so schätze ich den Geschäftssinn dieses Trainers. Damals war ich auch neidisch: auf seine Fähigkeit, Menschen zu fesseln. Dass er große Säle füllte, obwohl die Seminare alles andere als günstig waren. Der Neid motivierte mich, an mir zu arbeiten, meine Talente zu schmieden und mich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln.
Heute werde ich als Redner gebucht. Halte rund 40 Vorträge im Jahr. Spreche vor bis zu 2000 Menschen. Auch frei und ohne Manuskript. Dass dieser Traum mal wahr würde, habe ich damals nicht wirklich geglaubt – aber immer gehofft. Doch hoffen reicht nicht. Damit Träume wahr werden, braucht es harte Arbeit – und manchmal auch Überzeugungsarbeit.
Vor einigen Jahren heuerte ich einen alten Vertriebskollegen an, der mich dazu drängte, meine Auftritte als professioneller Redner zu verkaufen. »Was für ein Quatsch. Redner kann man nicht verkaufen, die werden gebucht«, warf ich ihm ein Mantra an den Kopf, das ich mal in einem Buch gelesen hatte. Doch er ließ nicht locker. Zum Glück. Heute bin ich immer noch neidisch, wenn ich Menschen erlebe, die eine magische Wirkung ausüben. Mittlerweile geht mein Neid jedoch weit über Redner hinaus: Musiker, Sänger, Tänzer, Autoren oder Schauspieler – Künstler, die die Fähigkeit beherrschen, Menschen auf ihre Art magisch zu berühren, geben mir Kraft und Energie, weiter hart an mir zu arbeiten.
Die schöne Seite des Neides
Wenn Sie also im beschriebenen Sinne neidisch auf eine Person sind, ist das gut. Schämen Sie sich nicht dafür. Im Gegenteil: Freuen Sie sich! Denn dieser positive Neid inspiriert Sie. Gibt Ihnen Ideen, in welche Richtung Sie sich als Mensch entwickeln können. Selbst wenn Sie denken, dass der Abstand zwischen Ihnen und der anderen Person so gigantisch groß ist, dass Sie es nie schaffen, so zu werden.
Lassen Sie sich von solchen gedanklichen Querschlägern nicht die Laune verderben. Sie müssen gar nicht so werden wie die Person, auf die Sie neidisch sind. Natürlich können Sie anfangs versuchen, eine schlechte Kopie dieses Menschen zu werden. Doch denken Sie daran, irgendwann loszulassen und Ihren Lebensweg durch Ihre eigene Persönlichkeit prägen zu lassen. Vertrauen Sie auf die Natur. Sie lässt Sie nur dann auf positive Art neidisch werden, wenn dahinter der tiefe Glaube, vielleicht sogar die Gewissheit steckt:
»Ich kann da auch hinkommen!«
Solcher Neid ist also Inspiration pur. Er weckt Sehnsüchte und setzt damit ungeahnte Energien in Ihnen frei. Motivation, Antrieb und Ehrgeiz sind geweckt, sodass Sie jetzt auch etwas unternehmen, um sich in die ersehnte Richtung zu entwickeln. Denn nichts fällt vom Himmel. Ob ein starker Körper, finanzieller Erfolg oder die Fähigkeit, einfach mal »Nein« zu sagen, wenn Ihnen etwas nicht passt – all das ist kein Geburtsrecht.
Natürlich können Sie Glück haben und mit Talenten und Fähigkeiten geboren worden sein, die Ihnen vieles leichter machen. Aber was wäre alles möglich, wenn Sie sich zusätzlich noch anstrengen. Talente müssen wachgeküsst und geschmiedet werden. Deswegen schlägt Fleiß auf lange Sicht immer das nackte Talent. Machen Sie also etwas aus sich.
Wo wollen Sie im Leben hin? Was wollen Sie aus Ihrer Lebenszeit machen? Nutzen Sie die positive Seite des Neides, um sich zu motivieren. Kraft und Motivation zu finden, um sich anzustrengen. Arbeiten Sie für Ihre Sache. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Träume wahr werden. Und haben Sie am Ende auch den Mut, diese Erfolge zu feiern. Seien Sie stolz darauf. Sie haben es sich verdient!
Gegenwart machen: Neid in Ehrgeiz verwandeln
Verteufeln Sie nicht den Neid an sich. Passen Sie nur auf, dass Sie nicht in die Welt des hässlichen Neides abrutschen. Und nutzen Sie den positiven Neid, um Ihr volles Potenzial zu entfalten. Suchen Sie sich dazu bewusst Menschen, auf die Sie neidisch sein können, weil sie das, was Sie gern hätten oder sein wollen, bereits verkörpern. Und dann machen Sie sich auf. Strengen Sie sich an. Und erarbeiten Sie sich das, was Sie beruflich oder privat erreichen wollen.