von Ulrike Hollmann
„Es ist endgültig an der Zeit, auf uns aufmerksam zu machen“, sagt der Geist und man merkt ihm die Erschöpfung an.
„Ich habe schon so oft versucht, ihm den Weg zu weisen, jedoch immer wieder vergeblich“, meint der Körper.
„Ich helfe euch“, wirft die Seele ein, „und setze ihn außer Gefecht. Dann wird er Zeit für uns alle haben.“ Mit diesen Worten wandte sich die Seele um und machte sich an die Arbeit.
Monika A. Pohl, Employability: Ich habe mich festgelesen. Oh, ich sollte vielleicht erklären … „festgelesen“ heißt nicht, dass ich von dem Buch nicht mehr lassen kann, sondern dass ich über eine Stelle nicht hinauskomme, weil sie meinen Lesefluss ausbremst. Wie das?
Nun. Ich lasse mir gerade „Yoga und seine drei Dimensionen“ erklären und lande binnen zwei Seiten beim Augenyoga. Es gibt ein kleines Krafttraining für die Augen, das ich sofort ausprobiere, schließlich habe ich in einem Rutsch bis zur Seite 77 durchgelesen. Die Augen sind ein bisschen trocken geworden. Nach dem Training aber sind sie wie frisch gewaschen. Feine Sache, das werde ich mir merken. Doch wenn ich meine, nun für die nächsten 77 Seiten wieder aufs Sofa entlassen zu werden, habe ich mich geschnitten. Gleich der nächste Absatz leitet über zur Kieferentspannung.
Touché! Die Knirschschiene, dein Freund und Helfer. Treuer Begleiter, treuer sogar als ein Hund. Ich lerne, dass diese Treue einen Namen hat: Bruximus. Sieh an – hat sich seit Jahren bei mir eingenistet und nie seinen Namen verraten, dieses Rumpelstilzchen der Zahnarztpraxen. Frau Pohl beschreibt eine Morgenroutine, die im Wesentlichen darin besteht, das Gesicht möglichst in alle Richtungen zu knautschen und zu verzerren. Dabei bleibt bestenfalls kein Muskel unbewegt und angespannt. Ich lerne außerdem, wie ich den Kaumuskel gewinnbringend massiere.
Und hier greifen die Lesebremsen! Der Kaumuskel, ja. Wissen Sie genau, wo Ihr Kaumuskel verläuft? Nicht so ungefähr am Gesichtsrand entlang, sondern exakt, sodass eine wohlmeinende Massage auch ertrag- und nutzbringend sein darf? Hm. Frau Pohl beschreibt, was man beschreiben kann: „vom unteren Kieferbereich bis zum Jochbein“. Jochbein? Lieber auf Nummer sicher gehen. Tante Google wird zurate gezogen. Bei ihr gerate ich von Hölzken auf Stöcksken, lande auf YouTube und schau mir „Zähneknirschen“ an, studiere Abbildungen für Medizinstudenten …
Eine halbe Stunde später und um einige Informationen reicher löse ich die Lesebremsen und kehre zum Buch zurück. Der Abschnitt „Unspezifische körperliche Beschwerden und mögliche Ursachen“ wird vermutlich nicht viel Neues in mein Info-Sammelsurium bringen, das sich zusammensetzt aus Erkenntnissen, importiert aus Büchern, Gesprächen, Wartezimmern, eigenen Recherchen anlässlich des Unwohlseins von Mensch, Hund und Katz, aus Sendungen mit der Maus und den Ernährungs-Docs.
Weit gefehlt! Eine sehr interessante These springt mich an und haut die nächste Bremse in den Lesefluss: „Die meisten Menschen leben tagein, tagaus in einer latenten Depression und halten das aus, was sie scheinbar nicht beeinflussen können. Sie erstarren innerlich, können ihre Gefühle nicht mehr deuten und somit ihre Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen“ (S. 77). Ich lege – schon wieder! – das Buch beiseite und denke ein wenig auf diesem Satz herum. Tja, nicht jede gedrückte Stimmung geht auf die Kappe von Corona. Es gibt wohl viele Menschen, denen die Beweglichkeit des Lebens Kummer bereitet, weil sie gern an ihren Plänen festhalten möchten. Pläne geben Sicherheit. Mit Sicherheit hat die Evolution aber nichts am Hut. Und so kann sich über die Jahre eine tiefe Mutlosigkeit aufbauen. Die Angestrengtheit mancher Menschen im Umgang mit der Welt könnte man vielleicht mithilfe dieser These erklären. Wenn man sich angesichts einer bedrohlichen Umwelt permanent hilf- und machtlos fühlt, kann man wild um sich schlagen, bis man im Gefängnis landet, oder man zieht sich in sich selbst zurück und verkrustet und verkümmert bis zur Unbeweglichkeit. Im Extrem, versteht sich. Geistige Bewegung wird schwer, wenn man versucht, in jedem Fall möglichst auf Nummer sicher zu gehen.
Bremse lösen, weiterlesen. „… dass wir in Summe viel mehr wahrnehmen, als wir glauben, und dass uns die negativen Nachrichten, die ständig über unsere Bildschirme und Displays flimmern, wesentlich tiefer erreichen, als uns bewusst ist. Die Katastrophenmeldungen und Bilder hinterlassen in unserem Körper auf zellulärer und mentaler Ebene einen starken Nachhall, der uns durch eine Art Fluchtreaktion erstarren lässt …“ (S. 77) Bremse rein!
Schlechte Nachrichten hinterlassen einen Nachhall in den Zellen. Hm. Wissen die Nachrichtendienste das? Nur bad news are good news und schaffen es ans Licht der Öffentlichkeit. Selten sind es sachliche Nachrichten, stattdessen schlagen sie gern Alarm, melden ein Chaos, eine Katastrophe, eine Sensation oder mindestens doch ein Jahrhundertmegadrama. Eine Nachricht scheint heute erst gehört zu werden, wenn sie sich zuvor ordentlich aufplustert. Und das frisst sich alles in meine Zellen? Nach dem Motto: Gebt dem Trübsinn eine Chance, er will auch leben? Nein. Will ich nicht. Was kann ich dagegen tun? Besser auswählen, welche und wie viele Nachrichten ich in meinen Kopf lasse, und auf ihre Seriosität achten – das wäre zum Beispiel eine Maßnahme. Bremse lösen, weiterlesen.
Frau Pohl benötigt mal gerade knapp vier Seiten, um vom Augenyoga über Zähneknirschen, Depression, Schlechte-Nachrichten-Bombardement zur Fragilität der Welt zu gelangen, ohne dass man auch nur eine Sekunde den Verdacht hegt, man habe es hier mit einer zwar kenntnisreichen, aber etwas abgehoben-realitätsfremden Meisterin aus dem Bereich „Alles wird gut, wenn du nur wieder richtig atmest“ zu tun. Ganz und gar nicht. Allein aus den besprochenen vier Seiten habe ich zwei alltagstaugliche Übungen für zwischendurch eingeheimst, ein Video über den Kieferaufbau bei YouTube markiert (für „später mal in Ruhe gucken“) und einen Überblick über ein paar Zusammenhänge gewonnen, den die Autorin kurz und knapp, informativ, ohne Ablenkungsschnörkeleien und glasklar vermittelt. Und obendrein fand ich eine Handvoll Anregungen, wie man den Fokus auf die schönen, die aufbauenden Dinge des Lebens lenken kann, um sich stark zu machen für jeden Lebensbereich – für Job, Familie, Hobby und sogar für das Stehen an der Supermarktkasse in Zeiten von Corona.
Bis hierher habe ich nur von vier Seiten gesprochen. Das Buch aber hat 188 Seiten. Nun kann man sich leicht denken, wie reich an Gedanken, Anregungen, Heurekas, Übungen, Hilfestellungen für den Körper (runter vom Sofa!), die Seele (wie kann ich mich davor schützen, von Negativem in die Knie gezwungen zu werden?) und den Geist (so hängt das also zusammen!?) diese Seiten sind. Das Buch regt dazu an, den von der Autorin angesprochenen Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist das, was ich eine (Lese-)Bremse nenne: ein Innehalten, um das gerade Gelesene zu drehen und zu wenden, noch mal zu bedenken und zu prüfen, ob es etwas ist, was in das eigene Leben passt; die Anregung, weiterzuforschen, ein wenig hier und da zu recherchieren, sich verführen zu lassen, ein bisschen mehr zu erfahren; vielleicht sogar eine deutliche Pause zu machen, den Hund zu schnappen und einmal um den Block zu gehen, um zu verdauen und Platz zu schaffen für die nächsten Infos. Das alles ist in einer so locker-leichten Form geschrieben, dass nie der Eindruck entsteht, man habe ein belehrendes Besserwisserbuch in der Hand. Es macht einfach nur Lust darauf, mehr zu erfahren, das eigene Wissen auszudehnen. Das nenne ich eine Bereicherung.
Wenn Sie also wissen möchten, warum Intuition kein reines Bauchgefühl sein kann und was das mit den Affen im Gehirn zu tun hat, was das Natur-Defizit-Syndrom oder die Possibilisten-Haltung ist, wenn Sie in einem Gespräch leichthin die Begriffe „Solastalgia“ und/oder „Shinrin Yoku“ fallen lassen möchten und nicht fürchten müssen, dass jemand Sie nach der Bedeutung fragt – dann schlagen Sie nach bei Employability. Wünsche guten Genuss!
Monika A. Pohl
Monika Alicja Pohl (Niederkassel) ist Expertin auf dem Gebiet der Selbstfürsorge und vermittelt Strategien und Kompetenzen zur Förderung ganzheitlicher Gesundheit und Arbeitsmarktfitness in Zeiten der New Work. Sie ist Gründerin der Physioyoga Akademie, Heilpraktikerin für Physio- und Psychotherapie und erfolgreiche Autorin zahlreicher Ratgeber zum Thema Persönlichkeit und Lebenshilfe. Ihre Überzeugung: Nur wer gut für sich selbst sorgt, kann sein Bestes geben! Als Fachwirtin für Prävention und Gesundheitsförderung empowert sie Menschen und unterstützt Unternehmen durch Trainings und Coachings auf Führungs- und Mitarbeiterebene, sowie inspirierende und motivierende Vorträge.