Persönliche Entwicklung, Karriere, Finanzen

Finan­zi­elle Unab­hän­gig­keit ist das falsche Ziel

von Thomas Mathar

Stellen Sie sich vor, jemand ist sehr introvertiert und hat Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Diesem Menschen „soziale Unabhängigkeit“ zu wünschen, wäre naiv. Denn wir leben in einer Welt, in der absolute Unabhängigkeit von anderen unmöglich ist. Unsere Gesellschaft ist auf Kooperation und Interaktion aufgebaut, von der Lebensmittelversorgung bis hin zur Gesundheitspflege. Selbst der introvertierteste Mensch braucht andere, sei es direkt oder indirekt, um ein erfülltes Leben zu führen.

Genauso naiv ist es, finanzielle Unabhängigkeit als Ziel zu setzen. Was bedeutet das eigentlich? Die Vorstellung, nie wieder arbeiten zu müssen, weil genug Geld da ist? Oder die Freiheit, alles ohne finanzielle Einschränkungen zu tun? Das klingt verlockend, ist aber oft eine Illusion.

Finanzielle Unabhängigkeit zu Lasten eines erfüllten Lebens?

Oliver Noelting, ein überzeugter Anhänger der FIRE-Bewegung (Financial Independence, Retire Early), erlebte dies selbst. Sein Plan war es, frühzeitig in Rente zu gehen, indem er extrem sparte und bescheiden lebte. Doch die Geburt seiner Tochter veränderte alles. Plötzlich rückte die Gegenwart in den Vordergrund – die Zeit mit seiner Familie wurde ihm wichtiger als die Aussicht auf ein vermeintlich sorgenfreies Leben in der Zukunft. Er erkannte, dass das Streben nach finanzieller Unabhängigkeit oft zu Lasten eines erfüllten Lebens heute geht. Seine Einsicht:

Nicht Unabhängigkeit ist das Ziel, sondern Financial Wellbeing – Geld so einzusetzen, dass es ein Leben ermöglicht, das sowohl jetzt als auch später lebenswert ist.

Das Konzept des 100-Jahre Lebens, das ich in meinem Buch beschreibe, zeigt, warum finanzielle Unabhängigkeit ein überholtes Ziel ist. Heute leben wir nicht mehr in einem Drei-Stufen-Modell von Ausbildung, Arbeit und Ruhestand. Stattdessen erleben wir ein Multi-Stufen-Leben mit Übergängen, Rückschlägen und Neuanfängen. Finanzielle Unabhängigkeit kann diese Komplexität nicht abbilden – sie setzt auf eine lineare Lebensweise, die in der modernen Realität keinen Platz hat.

Financial Wellbeing bedeutet, finanzielle Entscheidungen zu treffen, die nicht nur Sicherheit geben, sondern auch zu Lebensfreude und persönlicher Erfüllung beitragen.

Es erfordert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Sparen, Investieren und der Nutzung von Geld, um das Leben zu genießen.

In meinem Buch greife ich auf die Idee des 100-Jahre-Lebens von der britischen Psychologin Lynda Gratton und ihrem Kollegen Andrew Scott, ein Ökonom, zurück. “Der Weg zu Glück und Wohlstand im 100-Jahre-Leben” zeigt, wie wir die diversen Herausforderungen des längeren Lebens, gepaart mit fluideren Lebensläufen, technologischen Herausforderungen und unsicherer Zukunft meistern können. Es bietet konkrete Strategien, um Financial Wellbeing zu erreichen. Der richtige Umgang mit Geld spielt hierbei eine Rolle – aber vielleicht nicht die dominante Rolle, die man vermutet.

Kriterium Finanzielle Abhängigkeit Finanzielle Unabhängigkeit Financial Wellbeing
Definition Abhängigkeit von externen Ressourcen wie Gehältern, Krediten oder Unterstützung anderer. Ziel, ein Leben zu führen, in dem Geld keine Rolle spielt, da genug vorhanden ist. Ein ganzheitlicher Ansatz, Geld zu verdienen, auszugeben und zu verwalten, um ein erfülltes Leben zu führen.
Ziel Überleben und Basissicherheit. Maximierung von Vermögen und Freiheit von Arbeit. Nachhaltige Lebensqualität und Erfüllung heute, morgen und in der Zukunft.
Schwächen Finanzielle Unsicherheit, eingeschränkte Optionen, psychischer Stress. Unrealistisch für die meisten, Fokus auf das Morgen, statt das Heute, häufig leere Erfüllung. Erfordert Selbstreflexion und Balance; ist individuell anpassbar und erfordert Disziplin.
Bezug zur Gegenwart Fokus auf die Gegenwart, oft zu Lasten der Zukunft. Fokus auf die Zukunft, oft zu Lasten der Gegenwart. Gleichgewicht zwischen Gegenwart und Zukunft.
Psychologische Faktoren Angst, Frustration, Unsicherheit. Häufig unerfüllte Erwartungen, „hedonistische Tretmühle“. Emotionale Intelligenz und Selbstwissen als Grundlage für sinnvolle Entscheidungen.

Viele Menschen streben finanzielle Freiheit an, weil sie es als das Gegenteil von finanzieller Abhängigkeit sehen. Doch dieser Dualismus führt in die Irre. Finanziell abhängig zu sein, ist belastend und natürlich nicht die Lösung. Aber das Ideal der finanziellen Unabhängigkeit ignoriert unsere grundlegende Verwobenheit mit anderen Faktoren, die zu allgemeinen Wohlbefinden beitragen (Familie, Gesundheit, Lebenssinn). Und es verkennt die Realität eines langen Lebens, das von wechselnden Phasen, Abhängigkeiten und neuen Anfängen geprägt ist.

Der bessere Weg liegt in einem dynamischen Gleichgewicht, das uns erlaubt, ein gutes Leben zu führen, ohne dabei einer Fantasie nachzujagen. Lebens- und Finanzplanung müssen als integrierte Prozesse betrachtet werden, die sich gegenseitig stärken: Finanzielle Strategien sollten auf persönliche Werte und Ziele abgestimmt sein (oder dem, was Stephen Covey “Zentren” nennt), während die Lebensplanung realistische finanzielle Ressourcen einbezieht. Nur so kann man heute ein erfülltes Leben führen und gleichzeitig für die Unwägbarkeiten der Zukunft vorsorgen.

Über den Autor

Dr. Thomas Mathar has been leading the Center for Behavioral Research at Aegon UK since 2017, one of the leading providers of investment and financial services in the UK. Here, he conducts large-scale studies examining the instincts, motivations, abilities, and environmental factors that influence people to make - or refrain from - making better long-term life and financial decisions.

He earned his PhD in European Ethnology from Humboldt University in Berlin and later pursued additional training in behavioral economics at the London School of Economics.

Dr. Tom, as the PhD anthropologist is known in the UK, is increasingly recognized in the German-speaking region as a speaker, trainer, and podcast guest.

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